Salih B, Nummer 864, rot

Etwa 400 bosnische Kriegsflüchtlinge müssen täglich in der Behörde des Landeseinwohneramtes in Hohenschönhausen vorsprechen. Ein Ort, wo aus Lebensgeschichten Nummern werden  ■ Von Kathi Seefeld

Wer von der Rhinstraße kommend dem Wegweiser folgt, landet in einer Baugrube. Oder zwischen Baggerfahrern, die auf Fragen nach der richtigen Richtung teilnahmslos mit den Achseln zucken. Zu verfehlen ist die für alle bosnischen Kriegsflüchtlinge in Berlin zuständige Dienststelle des Landeseinwohneramtes dennoch kaum.

Grau thront ein Betonplattenblock inmitten frischfarbiger Wohn- und Geschäftsneubauten jenes Viertels, das in Hohenschönhausen „Weiße Taube“ genannt wird. „Der soll ja nun auch bald gemacht werden“, meint eine Frau an der Haltestelle. Wann genau „bald“ ist, kann sie nicht sagen. Doch „daß die da nun alle wieder nach Hause müssen“, weiß sie ganz sicher.

„Die da“ ziehen Tag für Tag „in Scharen“ an ihrem Küchenfenster vorüber. Was es über „die da“ noch zu sagen gäbe, wird die Frau an diesem Morgen für sich behalten: Ihre Straßenbahn kommt angefahren.

Salih B. hat Krebs. Der 73jährige ist 1994 aus dem zwei Jahre zuvor serbisch besetzten Bijeljina in Bosnien vertrieben worden. Tagelang war er in Wäldern unterwegs und erkrankte schwer. In Berlin traf er dann später seine Tochter Jasmina wieder, die ihn seitdem pflegt.

Im Oktober vorigen Jahres wurde Salih B. auf der Ausländerbehörde der Paß abgenommen, als Alleinstehender der ersten Rückkehrphase bosnischer Kriegsflüchtlinge zugeordnet und außerdem einer Meldepflicht unterworfen. Salih B. kann kaum noch laufen, und er wird sterben. An diesem Morgen müßte er in der Ferdinand- Schultze-Straße vorsprechen.

Der Betonplattenklotz öffnet um halb acht. Zwischen halb und um sieben können die Flüchtlinge einen Container zu Füßen der Ausländerbehörde betreten, in dem sie eine Wartenummer erhalten. Es gibt rote, blaue, gelbe, grüne Zettel, je nachdem, mit welchem Buchstaben des Alphabets der Name beginnt.

Um eine günstige Wartenummer zu bekommen, muß man zwischen vier und fünf am Container stehen. „Kommst du später als um sieben, kannst du damit rechnen, daß du heute nicht mehr angehört wirst“, sagt ein junger Roma.

Draußen weht ein scharfer Wind von der Baustelle herüber. Familien mit Kindern, alte und junge Männer, Großmütter mit weiten Röcken – mehr als hundert Menschen drängen sich an diesem Morgen in den Gängen des Containers. Zwei Sachbearbeiterinnen arbeiten zügig, verteilen Nummer auf Nummer. „Wir haben hier einen Durchlauf von etwa 400 Personen am Tag“, sagt Bernd Otto, der den Leiter der Dienststelle an diesem Morgen vertritt. Vierzig Mitarbeiterinnen kümmern sich um die Fälle. Die einzige Dolmetscherin ist gerade erkrankt.

Zwei Stunden später ist aus Salih B. Nummer 864, rot, geworden. Seine Tochter Jasmina hält den Zettel für ihren Vater in den Händen, sie hat eine Vollmacht, um für ihn bei der Behörde vorzusprechen. Sie kann nicht glauben, daß ihr Vater vielleicht abgeschoben werden soll.

Und wenn doch? Sie will ihn nicht im Stich lassen. Andererseits hat sie selbst Kinder. Eine große Tochter, die in einem Jahr die Schule beendet haben wird. Bis dahin, gibt es eine Weisung des Senats, könne die Familie noch bleiben. Gehen, bleiben? Viele möchten nach Hause. Sehr viele haben kein Zuhause mehr. Jasmina B. hat sehr viel Zeit, sich an diesem Tag das Hirn zu zermartern.

Gegen Mittag beginnen besonders die Kinder in den Wartezimmern, unruhig zu werden. Der Aufruf der nächsten Nummer geht unter im Gewimmer. Der automatische Wartenummernanzeiger ist schon seit langem kaputt. Immer mehr Flüchtlinge gehen aus dem Warteraum hinaus in den Flur. Ein Polizeibeamter schickt sie wieder zurück.

Nein, nein, winkt Jasmina ab. Natürlich hat sie auch Angst, nach Bosnien zurückzugehen. „Ich habe gelesen, das dort fünf Millionen Minen im Laufe des Krieges abgelegt wurden. Bei drei Millionen Bosniern kommen auf jeden von uns etwa anderthalb Minen. Nein, ich glaube, die Furcht, daß meine Kinder eines Tages hinausgehen zum Spielen und ihnen dort etwas zustößt, kann ich nicht ertragen.“

Zwei Brüder aus Brcko beginnen, ihre Geschichte zu erzählen. In ihrem Haus wohnt jetzt eine serbische Familie, hießt es. Als die Nummer 864 aufgerufen wird, zittern Jasmina B. plötzlich die Hände. Die Sachbarbeiterin ist monoton freundlich: „Bitte unterschreiben Sie hier den Erhalt des Dokuments für ihren Vater.“ Salih B. erhält seine Duldung.

„Seit etwa zwei, drei Monaten gibt es die Weisung, Einzelpersonen, die nachweisen können, daß ihre Kinder und Enkel hier auch Flüchtlinge sind, gemeinsam mit der Familie zu behandeln“, sagt die Sachbearbeiterin. Jasmina schließt für einen Moment die Augen. Bis zum 23. Juli läuft die Duldung für die ganze Familie.

Die Sachbearbeiterin ruft die Nummer 865.