Vom Glück des Sichküssens im rechtsfreien Raum Von Wiglaf Droste

„10 Jahre Revolutionärer 1. Mai“ stand im Frühjahr 1997 an vielen Berliner Häuserwänden. Das war lustig, denn der Kreuzberger 1. Mai 1987 war nun alles mögliche – nur eben mit Sicherheit nicht revolutionär. Eher schon cool und sexy, eine seltene Melange aus netter Absicht und Kommissar Zufall, aus nicht näher bestimmter Energie und Dingen, die sich einfach ergaben: eine glücklich sich fügende Einheit von Ort, Zeit und Personal.

Ich war höllisch verliebt; als ich Ulrike Kowalsky in dieser Nacht zum ersten Mal küßte, war das sehr aufregend – und verglichen mit dem Anzünden der Bolle-Filiale am U-Bahnhof Görlitzer Bahnhof ein paar Stunden später dann vielleicht sogar doch revolutionär. Denn im Gegensatz zum Küssen ereignete sich das Abfackeln des Supermarkts mehr, als daß es ereignet wurde. Alkohol war im Spiel, die Stimmung war gut, ich hatte die Streichhölzer, oder war es ein anderer, egal, und dann passierte es eben, einfach so, en passant und lässig, ohne den Nimbus von Wichtigkeit, ohne die Bedeutungsaufgeladenheit, die schon am nächsten Tag und von da an ein ganzes Jahrzehnt lang auf die Geschichte draufgesattelt wurde.

Der Laden brannte, das Ereignis war nur es selbst, nichts war dahinter. So war es gut. Und wie man sich vorher an den Bildern von Süßigkeiten in Einkaufswagen beiseite bringenden Kindern und Bierkisten herausschleppenden Senioren gefreut hatte, wärmte man sich jetzt an den Flammen. Und küßte sich. Es schmeckte herrlich. Wenig nur ist der Entfaltung von Ekstasen so dienlich wie der vielbeschworene rechtsfreie Raum.

Die Sache war ein Coup. Leute, die sich, sei es bei öffentlichen Vereidigungen von freiwilligen Uniformträgern, sei es bei Räumungen besetzter Häuser gleichermaßen unwillig wie dennoch turnusmäßig von den Uniformierten hatten zusammenschlagen lassen müssen, sahen, daß das Spiel, zumindest für ein paar Stunden, auch einmal andersherum gehen konnte.

Weil das gesetzmäßig so festgelegt ist, rief der Zufallstreffer auch jede Menge Schwätzer auf den Plan; flugs kamen die Kriegsgewinnler angewackelt. Medienhachos und schwarz oder grün Uniformierte behaupteten, in echter oder gewollter Unkenntnis, jedenfalls aber in hübsch depperter Eintracht, in Kreuzberg habe Revolutionäres, Sinnstiftendes, Zukunftsweisendes stattgefunden. Die Synapsen knallten durch: Kreuzberg war ja Brixton, war Harlem, war Soweto! Oder wenigstens subito. Viele junge Kreuzberger sahen es von nun an als ihre Hauptaufgabe an, möglichst genauso auszusehen wie ein Spiegel-Titelblatt-Autonomer. Je mehr ihnen das gelang, desto deutlicher fühlten sie Identität, auch politisch! Die grün Uniformierten fanden die Idee mit der Wiederholung auch gut; sie sannen auf Rache und freuten sich, daß sich ihnen so viele Menschen dafür freiwillig zur Verfügung stellen wollten.

So läuft die Nummer seit Jahren. Warum auch nicht. Bloß: Wer soll das sportive, fitnessbetonte, Jugend trainiert für NOlympia- mäßige Gehampel aufregend finden? Ich gönne den Kindern das Glück im rechtsfreien Raum von Herzen, möchte ihnen aber ein Zitat von Fritz Teufel nicht ersparen: „Heraus zum 1. Mai? Mir ist auch jeder andere Termin recht.“