Platz frei für die Stadt

■ Neue Serie: DDR-Architektur. Das Etikett sagt alles und verrät doch nichts. Der Un-Ort zwischen Spree und Alex

Im Register des Stadtplans sucht man ihn vergeblich. Dieser Ort hat keinen Namen. Auch das „Planwerk Innenstadt“ spricht nur von einer „einzigen globalen Ortsvorstellung“. Die Sprache kennt nur eine Ansammlung von Einzelbauten.

Der Raum zwischen Spree und Alex scheint allen städtischen Traditionen zu widersprechen. Das Gegenteil ist richtig. Schon im 13. Jahrhundert legte die Stadt Berlin östlich der Spreeinsel einen Platz an. Das Areal war Schauplatz der ersten planmäßigen Stadterweiterung. Schon damals stand die 1270 begonnene Marienkirche schräg im Straßenraster. Gemessen an den wenigen tausend Bewohnern hatte der Platz mit 65 x 135 Metern gigantische Ausmaße. Alte Stadtansichten lassen erkennen, daß der Raum von damaligen Zeitgenossen kaum anders empfunden wurde als heute. Der „Neue Markt“ war, wie der Name sagt, ein Handelsort. Sein Erfolg hing an der Rathausstraße. Die Ost-West- Handelsroute entwickelte sich rasch zum bürgerlichen Boulevard. Noch im 13. Jahrhundert zog der Rat der Stadt an die Ecke Spandauer Straße.

Zentraler Ort der bürgerlichen Existenz

Die Stadtstruktur des 13. Jahrhunderts unterscheidet sich von der heutigen nur marginal. Heute wie damals ist der Raum der zentrale Ort der bürgerlichen Existenz Berlins. Das Rote Rathaus ist der Sitz städtischer Souveränität; das Nikolaiviertel stellt die ältesten Spuren der Stadt aus; schließlich verläuft hier die Stadtbahn als innerstädtische Hauptschlagader.

Dieser Raum war und ist die Stadt. Damals wie heute. Er ist ein Zimmer, dessen Dimensionen (300 auf 600 Meter) den Ausmaßen der Metropole angepaßt sind. Es ist genauso eindeutig gefaßt wie sein mittelalterliches Vorbild. Gerahmt wird der Raum von zwei 200 bzw. 340 Meter langen und gut 40 Meter hohen Scheiben. Beide wurden Anfang der siebziger Jahre errichtet, die Rathauspassagen von Heinz Graffunder, die Karl-Liebknecht-Straße von Wolfgang Rattke, Hans Peter Schmiedel und Manfred Zumpe. Trotz ihrer Größe achten beide Komplexe den Kontext. Wichtige Blickbeziehungen, wie von der Rosenstraße auf die Marienkirche, bleiben offen. Die Scheiben treten keineswegs in Konkurrenz zu den historischen Bauten.

Im Gegenteil: Sie ergänzen sich. Räumlich: Die Kirche steht entsprechend der Tradition von Lenn und Hobrecht frei. Vor dem Rathaus bekommen die Bürger ihren Platz. Ästhetisch: Die Höhe der Scheiben unterwirft sich den umliegenden Turmhöhen. Das Fassadendesign ist ganz darauf abgestimmt, neutraler Rahmen zu sein, und entbehrt dennoch nicht einer gewissen Eleganz. Auch die Basis braucht sich vor ihrem westlichem Pendant, dem Kranzler-Eck, nicht zu verstecken. Anders als jene rein kommerzielle Anlage, erschöpft sich das Bauprogramm hier nicht in Geschäften und Büros. Darüber liegen viele hundert Wohnungen. Die Scheiben verschaffen dem Platz seine Bewohner.

Der Platz wandelte sein Gesicht vom mittelalterlichen zum modernen keineswegs schlagartig. Die Ursache des Dimensionssprungs geht auf die Ausdehnung der Stadt und die Zunahme des Verkehrs im 19. Jahrhundert zurück. So schlägt man bis 1887 die Stadtbahn durch das Hüttenmeer, das sich auf den ehemaligen Wallanlagen angesiedelt hatte. Zeitgleich wird nördlich des Schlosses eine zweite Ostverbindung durchbrochen, die heutige Karl-Liebknecht-Straße angelegt. Der neue Neue Markt gibt seine Handelsfunktion an die erste Berliner Markthalle ab und wird zum Schmuckplatz. Ende der Zwanziger schließlich betreibt Stadtbaurat Martin Wagner die Umgestaltung des geschäftig gewordenen Alexanderplatzes zum Sammelpunkt des Ostens.

Den Grundkonflikt markiert dabei der Rathausneubau. Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich zwar die städtische Verwaltung soweit gegenüber dem königlichen Regiment emanzipiert, daß sie sich die Freiheit nahm, für ihr Rathaus gleich einen ganzen Block zu besetzen. Doch so selbstbewußt Herman Friedrich Waesermanns Bau die Stadt auch zur Schau stellte, in der Straße war es nur ein Haus unter vielen. Auf dem potentiellen Vorplatz standen Privathäuser.

Um diesen Platz anzulegen, bedurftes es einer Gesellschaftsordnung, die es ermöglichte, das Terrain von Privatbesitz in Gemeineigentum zu überführen. Darin erschöpfte sich jedoch die politische Bedeutung des Platzes. Alle anderen Versuche, ihn ideologisch zu besetzen, wehrte die Stadt erfolgreich ab. Noch 1958 sah es so aus, als würden sich Staat und Partei diesen Teil der Innenstadt aneignen. Als Ergebnis des Wettbewerbs zur „Umgestaltung der Hauptstadt“ sollte ein mehr als zwanzigstöckiges zentrales Parteihaus das östliche Spreeufer besetzen. Um die repräsentative Geste zu steigern, plante man, den Fluß zu gewaltigen, unbetretbaren Schmuckbassins auszuweiten, in denen das ganze Viertel um die Nikolaikirche versunken wäre.

Dazu kam es nicht. Statt für Staat und Partei erschuf man politisch neutrale Bauten für die Bürger. Den Palast der Republik errichtete man als Festhalle des Volkes; aus einem schlichten Medienbauwerk wurde ein der ganzen Stadt Identität und Überblick stiftendes Zeichen – der Fernsehturm. Für die Partei blieb nicht viel übrig. Das ZK zog sich in die alte Reichsbank jenseits der Spreeinsel zurück. Am ursprünglichen Standort vermochte sich die Partei erst viel später ein Denkmal zu setzen. Das 1985 eingeweihte Marx-Engels- Forum war ein Monument ihrer schwindenden Macht. Das besitzergreifende Monument einer lebendigen Organisation schrumpfte in jahrzehntelangen, zum Schluß sogar öffentlich geführten Auseinandersetzungen zu zwei bescheidenen Figuren ihrer Weltanschauung. Was als repräsentativer Staatsraum gedacht war, wandelte sich noch vor der Wende zum Platz der Stadt.

Der Kampf läßt sich noch heute deutlich an der Gestalt des Platzes ablesen. Einzig der Brunnen von Gottfied Funek und Werner Stockmann vereint schönen mit sozialem Gebrauch. Der dramatische Dachschmuck der Fernsehturm-Umbauung von Walter Herzog, Herbert Aust und Rolf Heider hat mit ihrer Funktion als Ausstellungsort nichts zu tun. Die hexagonalen Freiflächen sind mehr Schmuckbeet als nutzbarer Volkspark. Die Stadt hatte den Freiraum zwar für ihre Bürger erobert, doch um den Preis einer nutzlosen, repräsentativen Gestalt.

Der Kampf um den Freiraum tobt weiter

Auch heute tobt der Kampf um den Freiraum. Zwar sind die bauwütigen Entwürfe für Spreeinsel und Alexanderplatz, die vorschlugen, das Terrain mit Blöcken zuzupflastern, Geschichte. Die stadträumlichen Qualitäten des Platzes sind weitgehend akzeptiert. Doch wie der Freiraum für die Bürger in Betrieb genommen werden soll, ist strittig. Der Bereichsentwicklungsplan möchte den Freiraum per se erhalten. „Centralpark“ oder Skulpturengarten lauten die Vorschläge aus dem Bezirk. Die Stadtregierung sieht sich zu diesem Luxus nicht in der Lage und setzt auf private Inbetriebnahme.

Doch der Versuch des Masterplans, mit Bauwerken wie Markthalle oder Theater dem Platz Auffenthaltsqualität zu bringen, scheitert derzeit bereits auf dem Papier. Wie schwer die Inbetriebnahme ist, mußte auch die Wohnungsbaugesellschaft Mitte erfahren. An einer Aufwertung der Läden in der Liebknecht- oder Rathausstraße hat der Einzelhandel bis heute kein Interesse. Immerhin führen die Wohnungsfassaden, die die Wohnungsbau-Gesellschaft kürzlich dem Original getreu herausputzte, vor Augen, was die Stadt an diesem Platz hat. Hans Wolfgang Hoffmann

Teil II erscheint am 7. Juni: Der Kanzler auf dem Gästeklo