Ein Handwerker der Emotionen

Komponist Ralph Siegel wärmt unsere Seelen seit Jahren mit lieblichem Liedgut. Heute trägt eine ostwestfälische Beamtin sein pompöses Opus „Zeit“ beim Grand Prix d'Eurovision in Dublin vor. Ein Porträt  ■ von Jan Feddersen

Heute wird er nicht ansprechbar sein. „Niemand“, sagt einer aus seinem Troß, „kann die Gefühle ermessen, die er momentan nur mühsam zusammenhält.“ Bis viertel vor zehn muß er warten. Dann singt die ostwestfälische Beamtin Bianca Shomburg an Startnummer 11 sein Lied: „Zeit“. Den deutschen Beitrag zum europäischen Schlagerwettbewerb. Er war es. Er hat ihn komponiert.

Ralph Siegel hat genug Erfahrung bei derlei Wettbewerben gesammelt, um zu ahnen, daß seine Gemütsverfassung der nächsten Monate davon abhängen wird, ob die Juroren bei der Punktevergabe seine Hymne goutieren werden. Oder, wie so oft, als gut gemeint zu den Akten legen.

Zwar sagt er: „Der Grand Prix ist ein Geschäft.“ Aber das ist eine Ausrede. Denn sein großer, etwas steif wirkender Körper wirkt unruhig, wenn er so etwas sagt. Nie bleibt er ruhig, nie ruht er in sich.

Wie zum Beweis sehen seine Anzüge immer knitterig aus, faltig, als hätte er die Nacht in voller Montur auf dem Sofa verbracht. Ralph Siegel ist ein Gesinnungstäter. Ein brillanter Musiker, ein glänzender Produzent, sogar ein bis weit in die Technoszene hinein respektierter Soundmischer – okay. Aber vorwiegend ist er ein Handwerker der Emotionen. Einer, der an das glaubt, was er tut.

Schon in Lübeck, bei der deutschen Vorentscheidung Ende Februar, war dem Münchener anzusehen, daß er nicht als wohlhabender, ja reicher Musikproduzent sein Werk verrichtet und bestenfalls zusieht, daß seine Schlagerkandidaten pannenlos über die Runden kommen. Nein, da mühte sich einer, dem es mehr als ernst ist mit dem, was er dem Volk und seiner Sucht nach Schlagern anbietet.

Am Ende hatte er die nationale Hürde genommen, wie meist während der letzten zwei Jahrzehnte. Per Telefonabstimmung hievte das Fernsehvolk die musicalschwangere Melodie von „Zeit“, die allmählich allen abhanden komme, mit sattem Vorsprung auf den Thron. Ralph Siegel sah hernach – verschwitzt und erschöpft lächelnd – aus wie ein tief zufriedenes Kind, dem man nun väterlich erlaubt hat, am späten Abend, wenn ringsum endlich alle bunten Lichter brennen, auf dem Rummelplatz Karussell zu fahren.

Ein seltsamer, ein unvermeidlicher Mann. Er sieht riesengroß aus, vielleicht mißt er zwei Meter. Seine viel zu langen Armen liegen meist schlaff an seinem Rumpf. Sitzt er auf einem Polstermöbel, breitet er sie aus. Ralph Siegel ist immer präsent, nervös und drängend. Und er muß offenbar alles im Griff haben. So steckt er eigentlich in einem falschen Körper: Was der Mann am besten beherrscht, ist die Rolle der Mutter, deren Kinder es zu etwas bringen sollen.

Die ganze Dubliner Probenwoche über war ihm kein Detail zu banal, als daß er es nicht selbst überprüft hätte. Das Licht, die Kamerapositionen. Die weißen Rüschen am Ärmelende der Sängerin, ihr Make-up. Millimeterarbeit. Ein Knochenjob. So schickte er seine Bianca Shomburg am vorigen Montag mit nachsichtiger mütterlicher Fürsorge frühzeitig zum Schlafen, „damit sie hinterher nicht bereut, eine Chance vertan zu haben“. Am Tag aller Tage unkonzentriert zu sein und stimmlich indisponiert, weil es an Ruhe ermangelte? Fehlende Vorsorge, das würde sich Siegel nie verzeihen.

So gerne würde er nochmals gewinnen. Spricht man ihn auf jenen 24. April 1982 an, beginnen seine sonst dackelmüden Augen zu leuchten. Damals siegte die blockflötenhaft unschuldige Saarländerin Nicole Hohloch mit „Ein bißchen Frieden“. Siegel war da kein Newcomer mehr. Udo Jürgens' „Griechischer Wein“, Chris Roberts' „Du kannst nicht immer 17 sein“ oder Rex Gildos „Fiesta Mexicana“ hatte er auch schon verantwortet, inzwischen Standards, womöglich Klassiker deutscher Alltagskultur der Siebziger.

Aber Nicole, das war der Gipfel. 1982 im nordenglischen Harrogate hatte der Mann, dem die Neigung zu schallendem, befreitem Lachen nicht gegeben ist, sich richtig gehenlassen – und geweint. Geherzt hatte er die junge Sängerin und gedrückt. Alles hatte sie richtig gemacht, ihn und seine Gefühle überhaupt erst mit ihrem „Ein bißchen Frieden“ formuliert. Nun, 15 Jahre später, darf eingeräumt werden, daß mit diesem Opus Ralph Siegel das Lied der deutschen Friedensbewegung geschaffen hat.

Trotzdem hat man ihn gerade dieser Melodie wegen gehaßt. „Ein Pflänzchen, ein Schwächling“, nannte ihn Maxim Biller. Gar ein garstiges „Konfektionär der Zeitstimmungen“ rief ihm die taz damals hinterher. Kleinbürgerlicher Schlager mit so gewichtiger Thematik wie Abrüstung und PershingII in Verbindung bringen, abgerundet durch die tränenumflorte Erscheinung der Sängerin – nein, da hatte einer das Thema zu volksnah genommen, um als seriös durchgehen zu können.

Seither ist Ralph Siegel auf die Linke in der Bundesrepublik nicht mehr gut zu sprechen, fühlt sich verfolgt, von den „Feuilletons“ am meisten. Wie oft hatte er beteuert: „Ich bin ein Achtundsechziger!“ Trotzdem hat es ihm niemand gedankt. Dabei versteht er seine Zugehörigkeit zur Generation der Aufmüpfigen keineswegs als politischen Auftrag zum Umsturz. Ein knappes halbes Jahr nach Kriegsende als Sohn der Operettensängerin Ingeborg Döderlein und des prominenten Komponisten Ralph Maria Siegel (der uns die „Capri- Fischer“ schenkte) geboren, gehörte er während der fünfziger Jahre zur bayerischen Bohème, „lebte den Rock 'n' Roll“, so daß er heute ohne Probleme sagen kann: „Elvis war phänomenal.“ Und: „Ich höre wahnsinnig gern Bruce Springsteen.“

„Melodien, Melodien, Melodien“, sagt er, die seien „so schwer zu finden wie Juwelen auf einer Münchener Straße“. Von „den Amerikanern“, sagt er, habe er gelernt, in den USA schrieb er seine ersten Kompositionen. Schlager wollte er nie verfassen; das Kind aus gutem Hause wollte dem Vater beweisen, daß „mit Jazz und Besserem“ auch Geld zu machen sei. Siegel junior spielte in einer Jazzkapelle. „Aus dieser Zeit weiß ich auch, was beim Publikum ankommt“ – Kleinigkeiten zum Mitsummen. „Wissen Sie, eine einfache, schlichte Melodie muß sich anhören, als hätten Sie sie schon immer gekannt.“

Anfang der siebziger Jahre mußte er einsehen, daß sein Firmenimperium gedeiht, aber vorwiegend durch Vaters Liedtantiemen. „C'est si bon“ etwa lag als Vorsatz und Hürde wie eine Last im Kopf des Sohnes.

Dann kam Arnie Harris, Ehemann der amerikanischen Schlagersängerin Peggy March. Die war just in ein böses Karriereloch gestöckelt. Ob er nicht einen Song für sie habe, fragte der besorgte Schlagerehemann. Siegel probierte es, widerwillig. Heraus kam „Einmal verliebt, immer verliebt“, der erste Schunkelschlager für eine partyinteressierte Nation. „Ich war wirklich überrascht“, erzählt Siegel.

Seither gibt der bekennende Deutsche im Schlagerbereich jenen Part, den Helmut Kohl in der Politik abgibt: den Mann, der weiß, was das Volk wünscht und was es hören will, privat dennoch George Gershwin und Stephen Sondheim bevorzugt. Ein Populist, der weiß, daß C & A wichtiger ist als Versace. Und der trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – unideologisch bis auf die Knochen ist. Multikulti? „Wir Kinder der Fünfziger sind Europäer.“

Also ein Mann mit Gespür für Mehrheiten und für Koalitionen. Im Falle Siegel einer der Musikstile. Keine Spur von Tradition. Schon über 40 Jahre alt, lernte er noch, mit dem Atari umzugehen, um künftig seine kompositorischen Ideen nicht mehr am Klavier entwickeln zu müssen – ob nun HipHop, Reggae oder Musical.

Und so hören sich heute seine Beiträge auch an, vor allem jene für den Grand Prix d'Eurovision. Die klingen immer eine Spur zu schwer, so, als seien sie durch eine Soundanreicherungsmaschine geschickt worden: „Dschingis Khan“ (1979), „Theater“ (Katja Ebstein 1980), auch „Laß die Sonne in Dein Herz“ (die Gruppe „Wind“ 1987) oder 1994 die Girlgroupretorte „Mekado“ mit „Wir geben 'ne Party“. Allesamt Lieder, die – kongenial getextet von seinem Freund und Kollegen Bernd Meinunger – nichts als den typisch deutschen Wunsch nach Anerkennung durch die Welt, Verständigung der Völker und Frieden für alle ausdrücken. Was wollten die Deutschen schon mehr als ein Leben ohne Krieg?

Dennoch, so schön wie mit Nicole, so erfolgreich wie mit ihr und den sieben Millionen verkauften Singles von „Ein bißchen Frieden“ wird es nie wieder. Damals stimmte alles. Der Jubel auf der Bühne, die Tränen der Nicole, der kommerzielle Erfolg im Ausland, des Volkes Liebe. Wenn auch „nicht die der Kritiker“, die am liebsten den Grand Prix d'Eurovision abschaffen würden, wenn schon nicht ein Neutöner à la Stockhausen gewinnt.

Siegel, der Dauergewinner, kann sich freilich in miesen Momenten auch als schlechter Verlierer zeigen. 1992 etwa, als seine Kunstgruppe „Wind“ sein „Träume sind für alle da“ sangen und die Jurys es zornig auf den 16. Platz verbannten. Damals saß er in seinem Malmöer Hotel, voller Selbstmitleid eingesunken in die Polster: ein Gekränkter, der Seelsorge braucht, um ihn vor dem Schlimmsten zu behüten.

Doch die Zeit heilte seine tiefen Wunden. Tage später zieh er seine Interpreten, nicht glaubwürdig gesungen zu haben, was ihm wie einen Fall von Illoyalität erschien. Wer nicht mit ihm ist, der ist gegen ihn – so empfindet er wohl. Es ist das Credo eines Mißtrauischen, der selbst als Einzelkind immer Angst um seine Spielsachen hatte. Zugleich schwor Siegel aber, weiterzumachen – bis ihm das Lob „der Feuilletons“ endlich zuteil wird. Heute abend rechnet er offenbar nicht damit. So hat er vorsichtshalber versprochen, „weiterzumachen, bis ich 85 bin“, bis er „einmal noch“ gewonnen hat.

Das muß nicht als Drohung genommen werden, Ralph Siegel ist kein Zyniker: Dieses ewige Kind kann nicht anders, als die Welt an seinem persönlichen Ernstfall – und an seinem liebsten Spiel – teilhaben zu lassen.