Weiter Streit um Präsidentenrollstuhl

■ Das Roosevelt-Memorial in Washington ist eröffnet. Die Kritik bleibt

Washington (taz) – Gedenkstätten bestehen, anders als sonst Erinnerungen, aus Materie. Da sind die roh behauenen Steinquader, aufgeschichtet zur Schaffung von vier offenen Räumen in einem eingefriedeten Areal. Sie repräsentieren je eine der vier Amtsperioden Franklin Delano Roosevelts und alle zusammen eine Ära. Dann die Wasserfälle, die den Fluß der Zeit symbolisieren wie die Felsblöcke den Stein im Fluß der Zeit.

Und dann die Nachbildung der Armut: ein Stück Backsteinmauer steht für die städtische, eine Scheunenwand für die ländliche. Vor der Mauer drücken sich die Bronzefiguren von Menschen, die nach irgend etwas anstehen, vor dem Farmhaus steht ein Bauernehepaar, eine Armutsversion von „American Gothic“. Beeindruckend, wie der Bildhauer das verwitterte Holz nachbildet, man muß daran klopfen, um sich zu vergewissern, daß das Bronze ist.

Und darüber in Stein gehauen die Worte, die zum politischen Begriff geronnen sind: „Ein Drittel der Nation schlecht gekleidet, schlecht behaust und schlecht ernährt“, die Drittelgesellschaft. Den Beginn des Rundgangs aber markierte noch am Tag vor der Eröffnung ein Stück Material, das ganz echt war. Auf einem der Steinsockel, liegt eine verkrumpelte Decke, das Nachtlager eines Obdachlosen, der von den hektischen letzten Vorbereitungen und gutgekleideten ersten Besuchern vertrieben wurde. Eine Erinnerung daran, daß die Zweidrittelgesellschaft noch existiert.

Die von Roosevelt entworfenen Beschäftigungsprogramme schufen nicht nur materiellen Reichtum, sondern die Erfahrung solidarischen Zusammenarbeitens. Die Hegemonie des amerikanischen Individualismus beugte sich für mehr als ein Jahrzehnt dem Gedanken, daß eine Gesellschaft aus ihren gemeinsamen Anstrengungen besteht. Die Erinnerung an das Elend von damals gerät vielen zur Verklärung besserer Zeiten: „Wir saßen abends am ungedeckten Tisch und hörten Roosevelts Ansprache. Seine Worte waren so wichtig wie das Essen auf dem Tisch.“ Barbara ist nicht die einzige, die hier Tränen in den Augen hat.

Es ist eine Ironie der Geschichte, daß ein Memorial, das vor einem Vierteljahrhundert beschlossen wurde, just zu einem Zeitpunkt eröffnet wird, da viele der Programme, die Roosevelt geschaffen hat, in Gefahr sind, abgebaut zu werden. „Wir werden ja sehen, was aus unserer Rentenversicherung wird“, fügt Barbara an.

Nicht, daß es keine Kontroversen um das Roosevelt-Memorial gäbe. Ein Streit ist entbrannt, ob Roosevelt im Rollstuhl abgebildet werden sollte. Er war gelähmt, und sein Beispiel war Behinderten damals wie heute Vorbild. Wer die bronzene Nachbildung Roosevelts genau betrachtet erkennt, daß der von einem Cape umfüllte Präsident im Rollstuhl sitzt. Man muß sich dazu in den Zwischenraum zwischen Steinmauer und Standbild zwängen, um die zwei kleinen Räder zu sehen, die aus dem Umhang hervorlugen.

Mit der Schaffung und gestrigen Eröffnung des Roosevelt-Memorials stehen im Zentrum Washingtons jetzt vier Gedenkstätten für amerikanische Präsidenten: Washington, Lincoln, Jefferson und Roosevelt. Eine Nation mit einer so kurzen Geschichte hängt an ihren Gründervätern. Daß Roosevelt in diese Ahnengalerie aufgenommen wird, läßt hoffen.

Eine Schulklasse geht durch die Anlage. Was die Kids von Roosevelt wissen? So gut wie nichts. Sein Lebenswerk ist zu den wenigen Aussprüchen geronnen, die in Stein gemeißelt sind: Das Erbe einer Epoche ist zu Sound-Bytes geworden für eine Nation, die nicht mehr liest und von ihrer Geschichte oft nur die Namen der Helden kennt. Bruce Chatwin hat in seinem Buch „Songlines“ die Wanderpfade beschrieben, auf denen die Menschen sich ihre Geschichten erzählten. Für Roosevelt schuf der Architekt Lawrence Halprin als Materialisierung von Erinnerung eine Parkanlage, einen Wanderpfad und eine Songline. Peter Tautfest