Pasta mit Tomaten

Tony Blair und der Stallgeruch der plaudernden Klassen. Großbritanniens Intellektuelle könnten sich rasch gegen ihn wenden  ■ Von Denis Staunton

In seinem Roman „Die Information“ faßt Martin Amis die politische Position von Englands kultureller Elite in einer Kurzbeschreibung seiner Hauptfigur zusammen: „Natürlich war Gwyn für Labour. Das war offensichtlich. Zu sehen war es nicht an den Stuckleisten, nicht an den Messinglampen oder der militärischen Gedrungenheit des Schreibtisches mit der ledernen Schreibfläche. Offensichtlich deshalb, weil Gwyn eben war, was er war, ein Schriftsteller, in England, am Ende des 20. Jahrhunderts. Alle Schriftsteller, alle, die irgendwas mit Büchern zu tun hatten, waren für Labour. Wenn er in seinen Kreisen verkehrte, wenn er las, was er las, schien es ihm oft, daß ganz England für Labour war, außer der Regierung.“

Nun ist sogar die Regierung Labour, und Englands plaudernde Klasse kann ihre Freude kaum verhehlen. Diese Freude rührt zu gleichen Teilen von einer gewissen Schadenfreude angesichts des Ausmaßes der konservativen Verluste und einem echten Enthusiasmus für die neue Labour-Regierung. Als Donnerstag nacht für einen führenden Tory nach dem anderen die Klappe fiel, dachten viele Intellektuelle, für diesen Anblick habe es sich gelohnt, achtzehn Jahre zu warten.

Intellektuelle hatten in England, wo es kaum eine Beleidigung gibt, die mehr trifft als „Schlaumeier“, noch nie einen besonders guten Stand. Aber unter Margaret Thatcher war ihre Marginalisierung so weit gediehen, daß Oxford sich zu dem seltenen Schritt veranlaßt sah, der Premierministerin die Ehrendoktorwürde zu verweigern.

Was sie betraf, hatte Thatcher nie einen Hehl aus ihrer Verachtung für Schriftsteller und Künstler gemacht, nie ihre Überzeugung hinterm Berg gehalten, daß Kultur funktionieren sollte wie jedes andere Business auch. Manche Autoren, wie zum Beispiel Harold Pinter (der noch 1979 für Thatcher gestimmt hatte), dämonisierten sie als gefährlichen Despoten und verärgerten ihre Zuhörer im noch kommunistischen Osteuropa mit der Überzeugung, daß England auch unter dem Joch der politischen Unterdrückung stehe. Thatchers politischer Loyalitätstest hieß: „Ist er einer von uns?“, und genau diese Frage stellen sich – noch ganz benommen von dem Wahlergebnis – Englands plaudernde Klassen.

Auf den ersten Blick sind Blair und seine Frau Cherie, eine erfolgreiche Anwältin, die perfekten Vertreter dieser Klassen in der Downing Street 10. Sie wohnen in Islington, einem Bezirk im Norden Londons, wo sie umringt sind von Medienleuten, Schriftstellern, Schauspielern und Filmemachern. Sie essen in Restaurants wie dem Granita oder dem River Café, wo man ein wohlkomponiertes Mahl zu schätzen weiß. Blair bestand den Geschmacktstest der plaudernden Klassen neulich mit links, als er sagte, sein Lieblingsgericht sei Pasta mit sonnengetrockneten Tomaten.

Die Blairs verbringen ihre Ferien in der Toskana, wo sie neben Leuten wie dem Autor John Mortimer, dem Filmmogul David Puttnam oder dem Architekten Richard Rodgers wohnen. Gelegentlich gehen sie ins Theater, wie letztens zu Stephen Sondheims „Eine kleine Nachtmusik“, und sie sind auf dem laufenden, was aktuelle Filme angeht.

Während der Wahlkampagne bezeichnete Blair sich selbst als modernen Mann, der mit den Beatles und einem Farbfernseher aufgewachsen sei und der viele Songs der sechzier Jahre noch auswendig kann. Während seines Studiums spielte er in einer Band, die „Ugly Rumours“ hieß, und jetzt, mit 43, hört er immer noch gern schöne, pralle Rockmusik.

Das jugendliche Image schmeichelt den Forty-somethings, die in vielen englischen Kulturinstitutionen sitzen, sie sind selbst eigentlich noch immer jung, und nun kommt ihre Generation eben richtig zum Zug. So wie Blair haben auch sie im Laufe der Jahre gewisse politische Überzeugungen von früher hinter sich gelassen, Kompromisse schließen müssen.

Aber schon jetzt, wo die letzten Jubel der Wahlnacht verklungen sind, befürchten viele seiner Unterstützer, die Morgendämmerung könnte am Ende doch nicht so strahlend ausfallen wie erhofft.

Da ist zum Beispiel die Tatsache, daß die von Blair verkündeten strikten Budgetgrenzen eben auch bedeuten, daß keine zusätzliche Kulturförderung möglich ist. Es könnte sogar weniger werden als bisher, denn Blair hat versprochen, einige der begehrten Lottomittel von der Kultur weg in Erziehung und Bildung umzuleiten. Die gesamte Kulturförderung Englands beträgt weniger, als der Berliner Senat allein für Theater ausgibt, aber Blairs Ratgeber haben ihm gesagt, daß durch Kulturförderung keine Stimmen zu holen sind. Wahrscheinlich wären die kulturellen Eliten sogar bereit, einige weitere Jahre der Unterversorgung hinzunehmen, wenn sie dafür in den Kreis der Entscheidungsträger vorrücken könnten. Aber das ist unwahrscheinlich. Blair hat die letzten drei Jahre damit verbracht, vor allem Freundschaften in der Geschäftswelt zu pflegen, unter anderem die zum Pressezaren Rupert Murdoch, den die plaudernden Klassen als den Teufel persönlich betrachten.

Entscheidender aber ist, daß der neue Premierminister, wenn er moralischen Rat sucht, sich nicht an Salman Rushdie oder Margaret Drabble wendet, sondern an Gott. Als der engagierte Christ, der er seit seinen Studientagen ist, hat Blair sich mit Glaubensbrüdern umgeben. Fast die Hälfte seines Kabinetts besteht aus praktizierenden Christen, viele von ihnen sind Mitglieder der Christlich-Sozialistischen Bewegung. Blairs politische Philosophie verdankt dem christlichen Kommunitarismus mehr als Marx und Engels, und sein Bekenntnis zu einer gerechteren Gesellschaft geht Hand in Hand mit einer fast autoritären Hingabe an Law and order. Einer seiner Mitarbeiter sagte kürzlich, Blairs Modell für England sei nicht Amerika, Australien oder ein europäisches Land, sondern Singapur, ein Staat, der nicht eben für seine liberale Tradition bekannt ist. Sein Innenminister Jack Straw will eine Ausgangssperre für Kinder unter zehn Jahren verhängen und eine New York abgeschaute „Zero Tolerance“-Polizeistrategie für Englands Städte anordnen. Blair hat bereits „Zero Tolerance“ für Andersdenkende in seiner Partei bewiesen und die Kritik von links im Wahlkampf wirkungsvoll zum Schweigen gebracht.

Der erdrutschartige Sieg letzte Woche dürfte ihm angemessen lange Flitterwochen verschaffen, aber sobald der „frohe, zuversichtliche Morgen“ vorbei ist, werden es womöglich seine Bewunderer aus den plaudernden Klassen sein, die sich als erste gegen ihn wenden. Übers.: MN

Der Autor ist Berlin-Korrespondent des „Observer“