„Die haben Angst“

Jorge überfällt Leute. Von irgendwas muß man ja schließlich leben. Oder sterben. Wie Jugendgangs in El Salvador versuchen, aus der Gewalt herauszukommen  ■ Aus San Salvador Anne Huffschmid

Unter dem Blechdach der Militärkaserne, wo sonst Panzerwagen und Armeefahrzeuge parken, liegen säuberlich aufgereiht auf dem Betonboden allerlei Gewehre und Pistolen, jede mit einem kleinen Etikett versehen. „Wir haben hier Sachen aus aller Welt“, erläutert ein freundlicher Soldat den Unkundigen voller Stolz das ausgestellte Kriegsgerät, aus Vietnam und sogar aus dem Zweiten Weltkrieg sei was dabei. Eingesammelt wurde es in El Salvador, wo seit Herbst letzten Jahres eine Waffenkampagne der etwas anderen Art anläuft: Die „Patriotische Bewegung gegen das Verbrechen“, eine Initiative der salvadorianischen Privatwirtschaft, hat es sich zur Aufgabe gemacht, den schwerbewaffneten Salvadorianern ihre Flinten gegen Lebensmittelgutscheine zu entlocken.

Über 4.000 Gewehre sind bislang zusammengekommen, auch Granaten, Minen und der eine oder andere Raketenwerfer. Ein paar hundert davon sollen heute öffentlich – und möglichst medienwirksam – unschädlich gemacht werden. Fernsehkameras und Schweißbrenner stehen bereit, Männer mit Schutzbrillen warten neben gigantischen Gasflaschen auf ihren Einsatz. Aus einem scheppernden Lautsprecher erklingt die Nationalhymne, selbst eine blauweiße Flagge mit dem Landeswappen ist notdürftig an einem Pfeiler gehißt. Dann ist es soweit: Das erste Gewehr wird über die Tischkante gelegt, die Stichflamme des Brenners nähert sich, die Fotografen drängeln sich um die Funken, es entspannt sich ein kurzer Disput, wie das Ding nun am besten und kamerafreundlichsten kaputtzukriegen sei.

Plötzlich kommt ein unerwarteter Gast auf dem Militärparkplatz vorgefahren – der Präsident höchstpersönlich. Feierlich schreitet er die darniederliegenden Gewehre ab, greift schließlich selbst zum Brenner und schweißt so lange an einem Gewehrkolben herum, bis dieser endlich symbolträchtig in der Mitte auseinanderbricht. Die Reporter haben ihr Bild des Tages: Mit ausgebreiteten Armen hält Armando Calderón Sol, der noch fünf Jahre zuvor dem Friedensvertrag mit der Guerilla mehr als skeptisch gegenübergestanden hatte, die zwei Gewehrhälften in die Kameras und lobt den „wundervollen Akt“ der Waffenzerstörung.

Dabei ist es wohl weniger pazifizistisches Gewissen als vielmehr die wirtschaftliche Misere im Nachkriegs-El Salvador, was die Menschen zur Sammelstelle treibt. „Für manche Leute ist es heute ein lukrativeres Geschäft, die Waffen an uns zu verkaufen“, so der Vertreter einer kanadischen Entwicklungsagentur, die die Waffensammlung mit finanziert, „als jemanden damit zu überfallen.“

Jorge lebt von Raubüberfällen. „Ja klar“, erläutert er auf Nachfrage geduldig, „mit Waffen natürlich.“ Das sei wohl „nicht ganz in Ordnung“, aber von irgend etwas müsse man ja leben. Aus der Lehre ist er rausgeflogen, und mit all den Tätowierungen wird der 18jährige so schnell keinen neuen Job finden. Jorge ist Mitglied einer „Mara“, wie die Jugendgangs in El Salvador heißen.

Hier, südlich des Stadtzentrums, im Viertel mit dem passenden Namen „Modelo“, ist das trostlose Reich der Mara Salvadoreña, kurz M.S. Zwischen heruntergekommenen Wohnbaracken mit vergitterten Balkonen, Wellblech und schier unendlichen Wäscheleinen treffen sich die Cliquen. Vor den graffitibemalten Häusermauern gammeln Müllberge vor sich hin, magere Hunde streunen im Staub, und Uringestank durchdringt die Luft.

So wie Modelo wird ein Großteil der Armenviertel in der 1,5-Millionen-Stadt von den Mara- Banden kontrolliert. 20.000 bis 50.000 Jugendliche sollen heute in den Gangs organisiert sein. Wenn es in El Salvador um Gewalt und Verbrechen geht, ist fast immer von den Maras die Rede. „Die Leute haben Angst vor uns“, sagt Jorge leise, und es klingt fast verlegen, so, als könne er selber nicht recht verstehen, warum. Immer wieder gehen reißerische Gruselgeschichten durch die Schlagzeilen: Hier ein Aussteiger, den die Gangmitglieder von einer Brücke stürzen, dort ein besorgter Familienvater, der aus Rache bei lebendigem Leibe verbrannt wird.

Angefangen hatte alles in den USA: Während des Bürgerkrieges waren Hunderttausende von Familien aus El Salvador gen Norden geflüchtet, die meisten nach Los Angeles. Dort begannen die Jugendlichen sich im alltäglichen Überlebenskampf mit dem weißen Amerika und anderen Latino- Gruppen in Banden, den pandillas oder maras, zu organiseren. Als die USA die pandilleros nach dem Friedensvertrag von 1992 – oft direkt aus dem Knast – in die Heimat zurückverfrachteten, exportierte sie damit auch die Jugendgangs. Allein gelassen im kriegsgeschädigten Land, wurden die Banden mehr denn je zum Familienersatz.

In den USA, erzählt ein ehemaliger Bandenchef, ging es noch eher „um Partys und ein bißchen Rangelei“ – nach der Rückkehr wurde alles brutaler: „Hier kann man ja eine Granate schmeißen, und es fällt keinem auf.“ So wurden die Maras, die sich zumeist in leerstehenden Häusern einrichten, nach und nach zu Wächtern „ihrer“ Viertel, die sie nach außen, also gegen Polizei, verfeindete Gangs und auswärtige Räuber, verteidigen. Im Gegenzug lassen sich die maristas von der Nachbarschaft – mal mehr, mal weniger freiwillig – mit Essen versorgen.

Auf einem kaputten Mäuerchen hockt Romero, ein Neunzehnjähriger aus Jorges Clique, der wie benommen vor sich hin schaukelt. Abgerissene Hosen, Baseballkappe, den nackten Oberkörper tätowiert. Bereitwillig läßt er sich ausfragen. Die viele Gewalt? Der Junge zuckt mit den Schultern. „Man muß eben zuschlagen, bevor man selbst einen draufkriegt.“

Erst gestern ist Romero wieder von einem Polizisten verprügelt worden, sagt er und zeigt ein paar große blaue Flecken auf der Brust. Ob er selber schon jemanden umgebracht habe? Er nickt, wieder Schulterzucken, ein stumpfes Grinsen. Nur einmal blinken seine Augen auf: Natürlich sei er stolz darauf, ein Mara zu sein, „hasta la muerte“ – bis in den Tod. Ein Traum? „Ein Haus für die ganze Mara“, flüstert er nach einer Weile. Oder vielleicht auch eine Arbeit als Tischler oder Mechaniker. Das aber scheint für einen wie Romero in weiter, unwirklicher Ferne zu liegen.

Auch untereinander herrschen rauhe Sitten. Neulinge werden erst nach einer Feuerprobe aufgenommen: Genau 13 Sekunden lang muß der angehende marista Schläge von vier Mitgliedern über sich ergehen lassen. Weibliche Anwärterinnen können sich wahlweise auch für das „Zug“-Ritual entscheiden, das besagt, „daß mehrere über einen rüberrollen“, wie die 23jährige Elsie das Procedere umschreibt. Sie selbst habe damals, als sie vor ein paar Jahren zur Mara gestoßen war, die Prügel vorgezogen, „da wird man hinterher wenigstens noch respektiert“.

Schwer vorstellbar, daß das hübsche Mädchen mit der Stupsnase und dem freundlichen Lächeln früher fremden Leuten ein Messer an die Kehle gesetzt haben soll. Ein Jahr hatte sie im Gefängnis zugebracht. Nach ihrer Entlassung hat sie es nicht lange zu Hause ausgehalten und ist wieder auf Trebe gegangen. „Ich bin auf die Straße geflüchtet, weil ich mich allein gefühlt habe“, meint Elsie heute. Und ist stolz, daß sie inzwischen wenigstens ein eigenes Zimmer gemietet hat, auch wenn sie nicht so recht weiß, wovon sie die nächste Miete bezahlen soll. Dennoch, die Mara möchte sie nicht mehr missen. „Egal, wie mies es mir geht, die stehen immer zu mir.“

Auch heute noch zieht Elsie mit der Clique um die Häuser im Stadtzentrum – inzwischen allerdings ohne Waffen. Sie brauche sie nicht mehr, sagt sie, weil sie inzwischen „mehr auf Gott“, vor allem aber auf sich selbst vertraut. Und weil sie vor ein paar Monaten Héctor kennengelernt hat. „Hier herrscht Krieg“, sagt Héctor Pineda alias „El Negro“, das Töten sei nichts als ein Überlebensimpuls. „Die Jungs sind völlig abgebrüht: Die bringen jemanden um, wie sie einen Hamburger essen.“ Der stämmige 25jährige weiß nur zu gut, wovon er spricht. Bis vor zwei Jahren gehörte El Negro selbst noch zum gewalttätigen Kern der Mara-Banden. Seit nach einem Raubüberfall seine Mutter statt seiner verhaftet wurde, hat er beschlossen, die Finger von der Gewalt zu lassen.

Auf der Straße wird der selbstbewußte Mann im US-inspirierten Ghetto-Look, mit Schlabberhemd und Ohrring, ehrfürchtig gegrüßt. Er ist hier geboren, alle kennen und achten ihn. Und genau das ist sein Vorteil. Seit Oktober letzten Jahres versucht er mit den „Homies Unidos“, den „Vereinten Straßenkids“ – unterstützt vom US-amerikanischen Kinderschutzbund „Save the Children“ – die Jungens und Mädchen auf andere Gedanken zu bringen. Das heiße keinesfalls, so El Negro, sie von der Straße zu holen, sondern die „Gewalt runterzuschrauben“.

Mitglieder der Homies sind ein paar Dutzend „ruhiggestellte“, sprich: gewaltlose maristas wie Héctor oder auch Elsie. Den potentiellen Gewalt-Aussteigern bieten sie improvisierte „kollektive Therapiesitzungen“ an, aber auch Computer-, Design- und Englischkurse. Ein Traum von Héctor, dem passionierten Computerkünstler, wäre es, sich mit den Homies zwecks Gelderwerb auf Special effects zu spezialisieren.

Noch ist die erste Einkommensquelle etwas bescheidener: Per Computer entwerfen sie Button- Motive, die dann mit einem handbetriebenen Maschine auf Anstecker gestampft werden. Dafür stellt der zwischen Los Angeles und Salvador pendelnde Schriftsteller Magdaleno Rose-Avila, die gute Seele des Projekts, ein Zimmer in seinem Haus am vornehmeren Stadtrand von San Salvador zur Verfügung.

Denn noch fehlt es am Geld für die entsprechende Ausrüstung, für eigene Räume und Computer. Fast noch dringlicher wäre zunächst eine andere Anschaffung: eine Laserpistole, die zumindest Gesicht, Hände und Unterarme vom Stigma der verräterischen Tätowierungen befreien soll.

Ein dumpfer Knall in der Nachbarschaft unterbricht das Gespräch. Héctor spitzt alarmiert die Ohren. Ein anderer steckt sich schnell eine Pistole in den Hosenbund, zusammen laufen sie auf die Straße. Ein paar Babys fangen an zu weinen, die Mütter tätscheln sie beruhigend und wirken selbst gar nicht sonderlich verschreckt. „Das ist so normal hier“, sagt eine von ihnen schulterzuckend. Nach ein paar Minuten kommt Héctor zurück. „Glück gehabt“, grinst er und zupft sich am Ohrläppchen, „nur ein geplatzter Reifen.“