Der Wink mit dem osteuropäischen Zaunpfahl

■ Unternehmen exportieren immer mehr Niedriglohn-Arbeitsplätze in Niedriglohnländer. High-Tech-Jobs dagegen sind in Berlin relativ sicher

Mit einer Steigerungsrate von 11 Prozent zum Vorjahr sind inzwischen über 260.000 Menschen in Berlin offiziell erwerbslos – mehr Menschen, als die Hansestadt Rostock Einwohner hat. Ob die Unternehmen Arbeitsplätze einfach dichtmachen oder ob sie nach Mittel- und Osteuropa, Asien und Südamerika exportiert werden, dazu geben die großen Industrieunternehmen sehr unterschiedliche Prognosen ab.

Siemens-Sprecher Enzio von Kühlmann-Stumm bedauert, daß Siemens-Berlin in diesem Jahr wieder 700 Arbeitsplätze abschaffen müsse. In der Kabelfertigung werden von 800 nur 500 übrigbleiben. Dafür entstehen im neuen Kabelwerk in Ungarn jetzt einige hundert Jobs. Kühlmann-Stumm präsentiert ein weiteres Beispiel für den Arbeitsplatzexport: „Kabelbäume für Autos werden fast ausschließlich von Hand gefertigt.“ Die Produktion in Berlin sei bei einem Vergleich der Lohnkosten mit mitteleuropäischen Ländern einfach nicht mehr konkurrenzfähig. Und die Kunden für diese Produkte seien beispielsweise Skoda in Tschechien und Seat in Portugal. Also werden diese Kabelnetze, die Hupe und Lenkrad, Scheinwerfer und Schalter verbinden, jetzt direkt in den Kundenländern in Siemens-Regie hergestellt. Dafür werden nochmals einige hundert Arbeitsplätze in Berlin gestrichen. Der Siemens- Sprecher verweist jedoch gleich darauf, daß die Situation im vergangenen Jahr noch viel schlimmer gewesen sei, als nämlich 1.200 Beschäftigte entlassen wurden.

Ob bis zum Jahr 2000 weitere 3.000 Beschäftigte auf der Streichliste stehen, wollte von Kühlmann- Stumm nicht kommentieren. In einem Konzeptpapier des Siemenskonzerns vom Februar diesen Jahres ist die Devise aber bereits klar: „Um die Geschäftsentwicklung stabil zu halten, müssen die Berliner Standorte ihren Strukturwandel fortsetzen. Das heißt unter anderem Erhöhung des Anteils der High-Tech-Fertigung und Verlagerung von Einfachtätigkeiten an preisgünstige Zulieferer...“ Das wird kein Nullsummenspiel zwischen Neueinstellungen und Entlassungen, wird aus dem Papier deutlich: „Der im laufenden Geschäftsjahr anhaltende Stellenabbau kann ... nicht kompensiert werden.“

Klaus-Peter Gaulke vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung erklärt diesen Trend: „Weil die Strukturverbesserung teils durch den Abbau qualitativ geringwertiger Arbeitsplätze, teils durch den Aufbau qualitativ hochwertiger Beschäftigungsmöglichkeiten erreicht wurde, haben sich die Chancen für gering qualifizierte Arbeitskräfte ... verschlechtert.“ Für viele BerlinerInnen bedeute dies einen dauerhaften Arbeitsplatzverlust, so Gaulke.

Viel positiver gibt sich Egbert Steinke, Sprecher der Industrie- und Handelskammer: „Arbeitsplatzexport ist ja ein etwas seltsamer Begriff“, sagt er, „berlinweit und bundesweit gibt es dazu keine griffigen Zahlen.“ Er rechnet auf: Vier Arbeitsplätze im Ausland sichern einen Arbeitsplatz in Deutschland; zumindest sei diese Formel in Wirtschaftskreisen immer wieder zu hören, meint er. Doch ist auch für ihn klar, daß in Polen und Tschechien, „so die Daumenformel“, eben nur 30 bis 40 Prozent der Berliner Löhne gezahlt werden. Und das bedeutet Konkurrenzkampf. Vor allem dem westlichen Polen werde das Arbeitsplätze, eine „Dynamisierung der Wirtschaft“ und steigende Kaufkraft bringen. Davon könne Berlin profitieren, so Steinke. Das klingt verständlich: Vielleicht kommen unsere polnischen Nachbarn dann öfter mal zum Shopping an die Spree.

Taktisch agiert der Papier- Riese Herlitz. Nach möglichen Auslagerungsplänen befragt, beruft sich Herlitz-Sprecher Immo von Fallois auf die lange Tradition des Unternehmens. „Immerhin sind wir schon seit 1904 in Berlin.“ Herlitz wolle nicht auslagern, so der Sprecher. Er fügt aber schnell hinzu, daß „dazu natürlich die Rahmenbedingungen stimmen müssen“. So werde jetzt auch samstags gearbeitet, und „in diesem Jahr haben wir eine Lohn- Nullrunde gehabt, um die Arbeitsplätze zu halten.“ Daß die Gewerkschaften sich diesen Forderungen nur anfangs widersetzt haben, markiert die Trendwende: Lieber Arbeitsplätze unter schlechteren Bedingungen akzeptieren, anstatt sich dem Verlagerungsdruck auszusetzen.

Doch auch Herlitz hat längst die mittel- und osteuropäischen Märkte gesichtet. In fast allen mitteleuropäischen Staaten sind Herlitz-Dependenzen errichtet worden. „In Polen sind wir mittlerweile Marktführer bei Schulheften“, beschreibt der Sprecher die Situation. In Poznan (Polen) hat Herlitz groß investiert, hier sind inzwischen rund 400 ArbeiterInnen beschäftigt. Die jedoch produzierten nicht für den deutschen Markt, sagt er. Anders ist das in China. Dort werden jetzt die Schulranzen gefertigt, auch für die Berliner Kids. Herlitz beschäftigt heute 5.200 Menschen weltweit, davon 2.800 in Berlin. Doch die Auslagerung von Arbeit aus der Stadt scheint programmiert. Denn zwei Drittel der Berlin-Brandenburger Herlitz-Beschäftigten arbeiten am Fließband oder in der Verpackung, eben in Jobs, für die in Niedriglohnländern ein Bruchteil des deutschen Lohns bezahlt wird. Spätestens im Jahr 2000 müsse man deshalb über die wirtschaftliche Situation – im Klartext: Verlagerungsmöglichkeiten – neu nachdenken, formuliert von Fallois vorsichtig.

Pillen und Glühlampen verlassen die Stadt, High-Tech-Medizin und Foto-Optik retten den Standort, so scheint es. Die Osram-Sprecherin Martina Vollmuth ist sich sicher: „Unsere Expansionen im Ausland bedeuten keine Gefahr für die deutschen Arbeitsplätze.“ Das ist erstaunlich, denn in den letzten zwei Jahren wurden im Osramwerk vier Fertigungslinien nach Shaw (Manchester) verlagert, und tausend Beschäftigte produzieren jetzt Glühlampen in Nové Zámky in der Slowakei. Doch die Sprecherin Vollmuth bestätigt: „Das hatte in Berlin keinen Arbeitsplatzabbau zur Folge.“ Die Produktion in der Foto-Optik sei so rasant angestiegen, daß die Beschäftigtenzahl gehalten werden konnte.

Auch Schering-Sprecher Michael Langenstein sieht den Standort Berlin nicht in Gefahr. Nein, in Billiglohnländer werde kein einziger Arbeitsplatz exportiert, ist er überzeugt. Schon die hohen Qualitätsansprüche bei den Pharmaprodukten ließen eine Auslagerung nicht zu. Doch Mitarbeiter bei Schering sehen das anders. Die Endfertigung beispielsweise für den südamerikanischen Markt fände mittlerweile in Brasilien statt. Das gleiche könne auch für die mittel- und osteuropäischen Märkte Realität werden. Die Produktion von Salben werde nach Mailand verlegt. Das sei zwar kein Billiglohnstandort, bewirke aber zusammen mit der Verlagerung der Trockenpräparatherstellung nach Weimar einen möglichen Verlust von 250 bis 300 Arbeitsplätzen in Berlin. Peter Sennekamp