Quasimodo

Tag für Tag Staub auf der Brust Eine Kurzgeschichte  ■ von Liu Zili

An der Zimmerwand hing ein Bild. Ein Brocken weißes Eis schaukelte auf blauen Wellen in dem schwarzen Rahmen. Es schien, als klopfte das Eis gegen das glatte Glas.

Ein großes Bett stand im Zimmer. Auf dem Bett lag bewegungslos ein Mann. Er war seit langer Zeit schon krank. Wie immer saß eine Frau bei ihm in einem Schaukelstuhl. Sie spielte mit einem Stein in der Hand. Der Stein kam aus dem Bauch ihres Mannes. Er war bunt und schimmernd. Ein Stuhl mit einer geschnitzten Lehne stand links vom Bett, der Frau im Schaukelstuhl gegenüber. Auf dem Stuhl hatte nie einer gesessen.

Die Frau beobachtete ihren taubstummen Mann. Er stand kurz vor dem Sterben. Sie war ohne Illusionen und fühlte nichts. Früher oder später würde es geschehen. Sie saß nur da in der Staubigkeit, Tag für Tag, und wartete darauf, daß der Staub sich mal hier und mal da langsam niederließ. Falls ihr würdevoller Mann eines Tages wirklich in einer großen Zeremonie begraben werden sollte, würde der Quasimodo in ihrem Herzen den Leichnam verlassen, durch den Flur gehen, die große Vase mit dem krummen Hals, die an dem mit Holzeinlegearbeiten geschmückten Wandpanel stand, umwerfen und sich mit Entschiedenheit auf den Stuhl setzen, auf dem nie einer gesessen hatte.

Sie sprach oft mit ihrem Mann. Dabei sprach sie sowohl für ihn als auch für sich. Ihre erste Frage war meistens:

„He, siehst du das Ungeheuer da auf dem Stuhl?“

„Nein. Ich seh nur den Sonnenschein auf Sitz und Beinen.“

„Du siehst es wirklich nicht?“

„Wie lästig! Ich finde, du solltest den Stuhl von mir wegrücken!“

„Nein! Das werde ich nicht tun. Er kann nicht bewegt werden. Ich werde sehen, wenn es kommt.“

Warum wartete sie so gläubig auf ein Ungeheuer, auf einen Quasimodo? Genügte ihr nicht, das Gesicht ihres Mannes von Krankheit verzehrt zu sehen, sein Fleisch geschmolzen wie durch Mangel an Zuwendung, und seine aus Angst geborenen Krämpfe? Der Körper ihres Mannes wurde hier von einer neuen Macht in Stücke gerissen und zu einer neuen Entrüstung zusammengesetzt, ohne Form, ohne Struktur, ohne Seele. Dieses Bild stand in heftigem Kontrast zu seiner Erscheinung, Haltung und Intelligenz vor der Krankheit.

Vor der Krankheit waren Körper und Geist eine Einheit gewesen, seine Erscheinung beeindruckend, seine Haltung elegant und sein Auftreten voller Zurückhaltung. Er gehörte zu der Schicht von Leuten, denen man ansah, daß sie aus guter Kinderstube und von guten Schulen kamen. Alles, was er tat, war fehlerlos: die physische Liebe, essen, ausgehen, nach Hause kommen, Gäste begrüßen, Besucher an die Tür begleiten, lesen, schreiben, Experimente ausführen, reden, zuhören – es gab keine Ausnahme. Kurz gesagt, er gehorchte dem Prinzip Eis. Er taute, wenn die Zeit fürs Tauen gekommen war, und gefror, wenn es an der Zeit zum Frieren war. Das hatte auf sie einen unerträglichen, nie endenden Druck gelegt, und ein großes Entsetzen.

Nach seiner Gallensteinoperation war ein farbloser Kristall aus seinem Körper entfernt und ihr in die Hand gelegt worden. Seitdem hatte sie ihn nicht mehr aus der Hand gegeben. Und es wurde für sie beide zu einem Wendepunkt. Seine Prinzipien, Regeln, Bräuche und Gewohnheiten wurden langsam flexibler und verschwanden schließlich ganz, bis der heftige Schmerz in seinem unteren Bauch eines Abends plötzlich aufhörte.

Aber der Wendepunkt war für sie zu spät gekommen. Seine neuer, regelloser Zustand war nur das Ergebnis seiner schwindenden Lebenskraft und geschwächten Sinne. Diese ungeformte Form war nicht, was sie sich vorgestellt hatte. Die Männlichkeit und Schönheit, nach der sie sich sehnte, waren verkörpert in Quasimodo. Wenn die Glocken im Schnee läuteten, machte sich Quasimodo auf den Weg und kam herbei wie ein Frühlingswehen. Er breitete seine Arme aus, die dick waren wie Baumstämme, und aus seinem Keuchen stieg die Ahnung eines versiegenden Flusses.

Schließlich setzte er sich auf den Stuhl, der weder groß noch besonders stabil war, und mit seinem affenartigen Körper blockierte er den direkten Kontakt zwischen seinem und ihrem Herzen. Wenn der hohe Trennvorhang fiel, füllte Einsamkeit den Raum von allen Seiten. Es war, als hätte jemand ein Spinnennetz berührt, das seit hundert Jahren ungestört geblieben war. Am Anfang war sie angenehm überrascht gewesen, dann kriegte sie Angst, und schließlich war ihr die Seele aus dem Körper gewichen. Der Kristall in ihrer Hand fiel mit einem dumpfen Geräusch auf den hellen Holzfußboden. Ein sehr schwaches, gedämpftes Echo füllte das Zimmer, als wäre es ein Omen. Sie wurde von vier Armen festgehalten. Ihre Arme entfernten sich langsam vom Körper.

Ihr Standbild wurde später rechts vom Bilderrahmen ihrer Ahnen aufgestellt. An die Stelle des Bettes kam ein großer Mah- jongg-Tisch. Das Wandpanel mit den Holzeinlegearbeiten wurde von einem Ornament aus unechten Diamanten ersetzt.

Aber nichts konnte das Schicksal ihres Mannes ändern. Nach ihrem Abtritt aus dieser Welt verging die Zeit chaotisch. Seine Glieder lösten sich nach der Verwesung von seinem Körper. Sein Körper verdampfte. Nur sein unzerstörbarer Kopf schwamm auf dem Eis.

Es gab kein Land in der Nähe des schwimmendes Eises. Das klare Meer machte klirrende Töne mit ihm. Eine Kolonie Pinguine hüpfte linkisch darauf herum, krächzend und ohne menschliches Gefühl.

Liu Zili schreibt Lyrik und Prosa; bis Ende der Siebziger veröffentlichte er in „Today“, einer literarischen Zeitschrift, die bis heute in China verboten ist. Er arbeitet als Journalist in Peking.