Die Nervenenden der Wörter

Wer in Indonesien schreibt, hat Angst. Doch die Zensur beweist auch die Macht von Texten  ■ Von Goenawan Mohamad

In Indonesien ist Zensur zu einem Ritual geworden: Automatisch wird jede abweichende Äußerung zensiert. Im Laufe der letzten dreißig Jahre sind in Indonesien allein 2.000 Bücher verboten worden. Theaterinszenierungen werden für eine Aufführungslizenz durch nicht weniger als neun bürokratische Instanzen gejagt.

Wie viele Rituale kann auch Zensur brutal und gleichzeitig sinnentleert sein – so sinnentleert, daß sie oft nur teilweise umgesetzt wird. Zensur als Ritual aufzufassen heißt jedoch nicht, sie für folgenlos zu halten. Besonders, wenn man bedenkt, daß Zensur einem nicht nur von den Büros wachsamer Militärbeamter oder übereifriger Bürokraten droht, sondern auch von einem selbst: nicht lange nach dem ersten Satz, den man schreibt. Ich wußte schon früh, was es heißt, vor Worten Angst zu haben. Wahrscheinlich ist die Formulierung „Angst vor Worten haben“ nicht ganz richtig. Was die Menschen wirklich ängstigt, ist die Unmöglichkeit, die Wirkung ihrer Worte vorauszusehen.

Als ich klein war, hörte ich Männer mit Netzen, Angeln und Haken sagen, daß sie das Wort „Fisch“ nicht aussprechen würden, solange sie draußen auf See sind. Wer in den Wald ging, um Teakholz zu schlagen, sprach das Wort „Tiger“ nicht aus, sondern benutzte ein anderes Wort für das Tier, um den Zorn des Dschungelkönigs nicht auf sich zu ziehen.

Heute spricht man viel davon, daß wir unsere Differenzen feiern sollten. Aber mir fällt als dominanter Tenor der multikulturellen Idee vor allem auf, wie das Wort „Kultur“ als Synonym gebraucht wird für „Gemeinwesen“ und als Euphemismus für „Rasse“. In anderen Worten: für eine abgrenzbare Einheit von Menschen mit unveränderbarem Zentrum. Diese Versuchung, die Differenz zu betonen, kann sich schnell zum Gegenteil der doch so notwendigen Toleranz entwickeln. Am Ende steht dann vielleicht ein Apartheidsystem der Werte.

Ich möchte diese Bemerkungen als Warnung zur Vorsicht verstanden wissen, denn wer über Meinungsfreiheit spricht, sollte mehr meinen als nur den öffentlichen Raum, in dem man Differenzen austrägt. Für mich hat das Thema Meinungsfreiheit – und ich bitte, meine Parteilichkeit zu entschuldigen – nicht so sehr zu tun mit kollektiven Grundfragen und Prinzipien oder der Formulierung gemeinsamer Wertvorstellungen. Vielmehr steht am Anfang der Meinungsfreiheit – wie am Anfang so vieler Menschenrechtsfragen – die Tatsache der Gewalt und des Leidens.

Am Anfang steht eine gewisse menschliche Sensibilität. Es ist eine Sensibilität, die, wie der französische Philosoph Emmanuel Levinas einmal gesagt hat, „an der Hautoberfläche, an den Nervenenden“ einsetzt. In anderen Worten: Es ist unsere Sensibilität beim Blick in das Gesicht des Opfers.

Es gibt da eine Geschichte, die ich gerne erzähle – als Beweis, daß das Thema Freiheit nicht so sehr zu tun hat mit gewissen Interpretationen westlicher Werte, sondern vielmehr mit realem Mord und realer Angst.

Im Juni 1994 wurde die von mir herausgegebene Zeitschrift Tempo zusammen mit zwei anderen, Editor und DeTik, von der Regierung verboten. Dreißig Tage danach besuchte ich ein weit abgelegenes Dorf auf der Insel Madura, im Osten Javas, mehr als tausend Kilometer entfernt von den alten Redaktionsstuben von Tempo. Man hatte mich eingeladen, an einer öffentlichen „Fürbitte“ teilzunehmen, die von einer hundert Jahre alten religiösen Schule des Dorfes organisiert worden war. 2.000 Menschen nahmen teil, unter ihnen 50 Ulamas.

Ich hatte immer gedacht, daß solche öffentlichen Solidaritätsaktionen – in diesem Fall für Tempo, eine städtische Publikation – höchstens von Studenten oder wohlmeinenden Angehörigen der Mittelklasse veranstaltet würden. Ich fragte also meinen Gastgeber, wie er darauf gekommen sei. Seine Antwort war klar und eindeutig: Zwei Monate vor unserem Verbot waren vier Bauern aus dem Nachbardorf von Soldaten erschossen worden, als sie eine Protestaktion gegen den Bau eines Dammes auf ihrem Land abhielten. Tempo und andere Medien schickten Reporter, um darüber zu berichten. Ihre Berichte erregten landesweite Aufmerksamkeit, und die Zentralregierung mußte sich etwas einfallen lassen, um den Zorn der Maduresen zu beschwichtigen.

In der unabhängigen Berichterstattung über ihre Bedrängnis lag der einzige Schutz für die Bewohner der Insel. Sie befürchteten, daß ohne eine unabhängig arbeitende Presse weitere Morde ohne größeres Aufsehen stattfinden würden und immer mehr Mißstände einreißen. Wer immer es war, der den Satz geprägt hat von der Freiheit, die nie alleine stirbt: Er hat absolut recht gehabt. Die maduresische Episode hat mich davon überzeugt, daß hinter der Geschichte der Freiheit und ihrer Abwesenheit immer auch eine Sozialgeschichte des Schreckens und der Angst gelegen hat.

Als am Anfang der Zeit den Menschen nur beschränkte Überlebenstechniken zur Verfügung standen und gesellschaftliche Beziehungen sich aus dem Trauma der Unterdrückung und gemeinsamer Armut ergaben, behandelte man Worte fast wie ein „Keris“, das traditionelle Schwert, das zumeist nur noch zeremonielle Bedeutung hat, jedoch immer auch die Möglichkeit enthält, Schaden zuzufügen. Weil Wörter so leicht Aggression und Konflikt entzünden können, läßt man sie in der Regel, wie die „Keris“, lieber stillschweigend in der Scheide stecken.

Aber dann kam die Zeit der Druckerpresse, und die Angst vor den möglichen Folgen der Worte wuchs – zusammen mit einem Mangel an Freiheit aufgrund dieser Angst. In vielen alten literarischen Werken, die handschriftlich verfaßt und vor einem beschränkten und intimen Kreis von Zuhörern gelesen wurden, wurde ohne allzugroße Zurückhaltung von Gott und Sexualität gesprochen. In den „Serat Centini“ beispielsweise, einer mehrbändigen javanischen Dichtung des 18. Jahrhunderts, findet man erotische Passagen über das, was gewöhnliche männliche Phantasien ausmacht: Das unendliche Begehren für den Körper einer Frau – selbst eine homosexuelle Affäre zwischen einer Lokalgröße und einem Tänzer ist zum Thema gemacht.

Die Welt dieser in Manuskripten existierenden Texte war mehr oder weniger geprägt von der Nähe zu einer relativ homogenen Gruppe von Zuhörern. In solch vertrautem Rahmen wenden wir uns an ein Publikum, deren Wertvorstellungen und Metaphern wir teilen. Die Ankunft von Kapital und Drucktechniken jedoch hat Werke wie die „Centini“ unmöglich gemacht. Schriftsteller, die seither auch nicht mehr namenlos bleiben konnten, wurden vorsichtiger im Ausdruck ihrer Träume und Erfahrungen – vor allem, wenn es um Gott ging oder Sex. Sie kannten die Leser, für die sie ihre Werke schrieben, nicht mehr so genau.

Vielmehr waren sie jetzt mit einer Welt konfrontiert, die auf das, was die Schriftsteller zu sagen hatten, leicht mit Schock, Mißtrauen, Unverständnis oder Wut reagierte. Vielleicht liegt darin das Paradox der Sprache in einer Zeit, in der Druck und Verlagswesen sich rapide entwickelten. Zwar scheint es, als würde das geschriebene Wort mächtiger durch den Prozeß seiner Vervielfältigung und weiten Verbreitung – aber am Ende ist genau diese Macht verantwortlich für die Unfreiheit der Worte.

In den vierziger Jahren, als indonesische Literatur hauptsächlich von einem kleinen Kreis von Literaten gelesen wurde, tauchte ein beeindruckender Dichter auf, Chairil Anwar. Er schrieb nicht nur wunderbare, bewegende Gedichte, sondern auch über Dinge, über die vorher noch nie geschrieben worden war. Seine schöpferisch fruchtbarste Zeit fiel zusammen mit der gerade erlangten Unabhängigkeit Indonesiens von den Niederlanden, als man in glitzernden Hoffnungen schwelgte und den Traum eines freien Landes feierte. Chairil Anwars Dichtung war neu und frech. „Aku suka pada mereka yang berani hidup“, schrieb er („Ich liebe die, die zu leben wagen“). Und „Aku suka pada mereka yang masuk menemu malam“ („Ich liebe die, die sich einlassen auf die Nacht“). Für Chairil war kein Problem, daß die Nacht Gefahren birgt, Blasphemien und Dämonen. Er kannte keine Furcht, keine bürokratischen Sanktionen, keine religiöse Doktrin, keine Zensoren oder irgendwelche anderen störenden Elemente.

In einem seiner Gedichte spricht er satirisch über den Himmel und benutzt dabei Bilder, die damals unter jungen indonesischen Muslimen populär waren:

„Bersungai susu/ dan bertabur bidadari beribu“

(„Vollkommen mit einem Fluß voll Milch/ und ausgestattet mit tausend Nymphen“).

Der Dichter fragt, ob unter diesen Nymphen wohl welche seien, die so aufregend sind wie die jungen Mädchen auf Erden. In anderen Worten: Er feierte das diesseite Leben mehr als das jenseitige. In einem anderen Gedicht, „Di Mesjid“, beschreibt er ein Zusammentreffen mit Gott als Konflikt:

„Ini ruang/ Gelangganh kami berperang“

(„Dieser Ort/ diese Arena, in der wir einander bekämpfen“)

Chairil Anwar starb jung, noch vor dem Ende der vierziger Jahre. In der Geschichte der indonesischen Literatur waren sein Mut und Übermut erst- und einmalig.

Zwanzig Jahre später wird der Herausgeber einer Literaturzeitung verurteilt – wenn auch nicht ins Gefängnis gesperrt, da das Urteil aufgehoben wird –, nachdem eine kleine Erzählung enorme Proteste hervorgerufen hat. Dieser Mann, H. B. Jassin, publizierte in seiner Zeitschrift Sastra eine allegorische Erzählung über die Mores der Gegenwart; Gott trägt eine Brille mit Goldrand und schickt den Propheten Mohammed als Vogel auf die Erde, auf daß er sich die Verwüstungen dort ansehen soll. Ein paar religiöse Führer waren wütend über die Geschichte, und eine Gruppe aufgehetzter Jugendlicher verwüstete das Redaktionsbüro von Sastra. Ihrer Meinung nach war die Geschichte „Langit Makin Mendung“ („eine Verdunkelung des Himmels“): Gotteslästerung.

Das geschah 1968. Die Zeiten hatten sich geändert. Vielmehr: Die Zeit bestätigte einmal wieder das Vorhandensein von Angst und Aggression – in neuem Gewand und gegen die, deren Material die Sprache ist –, als wohne ihr ein besonderes Potential der Verletzung geheiligter Normen inne. Heute würde es in Indonesien kein Schriftsteller mehr wagen, so etwas zu provozieren. Vielleicht haben sie das Zensiertwerden sogar als Notwendigkeit anerkannt. Seit Chairil Anwar mit dem Gott der Moschee kämpfte, ist viel passiert.

Aber Geschichten und Gedichte sind inzwischen ein unabweisbarer Teil unseres Lebens geworden. In ihren schönsten Werken zeigt uns die Literatur immer wieder, wie Worte Unerwartetes geschehen lassen können, unbekanntes Gelände erkunden und Spuren hinterlassen, die jeder Fesselung spotten. So beweist sich, wie leer das Ritual der Zensur ist – und wie schwierig doch, sich ihm zu unterwerfen.

Goenawan Mohamad war bis zum Verbot der indonesischen Zeitschrift „Tempo“ im Juni 1994 ihr Chefredakteur. Er ist jetzt Direktor des Instituts zum Studium freier Information (ISAI) und Vorsitzender des Unabhängigen Komitees für die Überwachung der Wahlen (KIPP). Der vorliegende Text basiert auf seiner Eröffnungsrede zum PEN-Kongress im Oktober 1995.