Mutti, der Mann mit dem Koons ist da

Marathon und Labyrinth für die ganze Familie: „Die Epoche der Moderne – Kunst im 20. Jahrhundert“ im Berliner Martin-Gropius-Bau ist eine geschmackvolle Bildstrecke mit 400 Originalen von Picasso bis Joseph Beuys  ■ Von Harald Fricke

Noch darf man hinter die Kulissen gucken. Kurz vor der Eröffnung stehen ein paar Dutzend Holzkisten auf dem Parkplatz herum, im Lieferanteneingang des Martin-Gropius-Baus stapeln sich kleinere. Alles wirkt sehr stabil und kompakt, nur die Aufschrift bleibt rätselhaft – „1927“ etwa, „Learning Curve“ oder einfach bloß „Rom“. Den Rest kann man sich während der nächsten drei Stunden beim Rundgang durchs Museum zusammenreimen: Was immer der Ausstellungsmacher Christos Joachimides von der Berliner Zeitgeist-Gesellschaft und sein Londoner Kollege Norman Rosenthal von der Royal Academy für die Epoche der Moderne als wichtig empfunden haben, es wurde in einer dieser Kisten angeliefert. Pollock aus Paris, Picabia aus New York, Picasso aus St. Petersburg oder Tokio, und die Paul- Klee-Bilder aus der Berggruen- Sammlung sind vermutlich mit der Spedition Hasenkamp von Charlottenburg schnell mal im Lkw herübergefahren worden.

Ob Flugzeug oder Kleintransporter, die Kunst der Moderne ist stets auf Reisen. Heute stehen Warhols Brillo-Boxen als Material aus dem Alltag auf einem Sockel in Berlin, und morgen wird mit denselben Objekten vielleicht in Moskau der Beweis erbracht, daß die Ästhetik des Westens von der Warenwelt abhängt. Im Gropius-Bau sind die theoretischen Vorgaben trotzdem bescheiden: Unter den Begriffen „Realität – Deformation“ wird das muntere Wechselspiel von expressionistischer Figürlichkeit und kubistischer Zersplitterung dargeboten, „Sprache – Material“ beschäftigt sich mit Sprache als Material, wie man es an Duchamps „Urinoir“ schätzt und bei Marcel Broodthaers Phantasiemuseen endlich versteht; dann aber kehrt sich das Verhältnis mit dem naturbelassenen Gewusel der italienischen Arte Povera wieder um, aus Material wird Sprache, und man ist so klug als wie zuvor.

Von der Vergeistigung zur Begeisterung

Im ersten Stock bekommt man mit „Traum – Mythos“ einen Leitfaden in die Hand gelegt, der vom Surrealismus à la Max Ernst oder Dali bis zu den Fotoinszenierungen von Cindy Sherman und Jeff Wall reicht; und unter „Abstraktion – Spiritualität“ kann man noch einmal den Weg von Wassily Kandinskys vergeistigter Malerei über Willem de Koonings begeistert gemalten Rundumschlägen zu Günther Förgs eher abgeklärter, aber auch irgendwie abstrakter Neuauflage der Bauhauslehre abschreiten.

Dazwischen sind ein paar Minimal-Arbeiten lieblos, teils grotesk abgestellt. Donald Judds verzinkte Kästen hängen schief, Richard Longs Steinbeet verschwindet auf dem geschliffenen Mosaikfußboden. Am Ausgang winkt noch Jeff Koons' polierter Stahl-Bunny herüber, und Rosemarie Trockel arbeitet sich mit Strickbildern aus Frauensicht an der Ironie „Moderner Kunst“ ab. Fotografie – von Joachimides lediglich als Hilfsmittel der Malerei eingestuft – ist kaum vorhanden, Robert Morris' angenehm körperbezogene Skulpturen fehlen ebenso wie die zugespitzt gegen den Betrieb gerichteten Installationen von Hans Haacke. Für Fluxus, Konzeptkunst und Body-Art war gar kein Platz. Die Epoche der Moderne beginnt mit Picassos „Desmoiselles D'Avignon“ 60 Jahre nach Courbet (also zu spät) und verebbt Mitte der sechziger Jahre, als die Diskussion um High & Low gerade spannend wird. Zeitgenössische Arbeiten wie Ilya Kabakovs Holzverschlag mit Ferngläsern, von denen aus man auf winzige Männlein blicken kann, die gigantische Imitate der klassischen Moderne bevölkern, sind zwar spektakulär, wirken aber wie beziehungslos hinzugestellt. Statt dessen verbrüdern sich einige fröhliche Alterswerke von Picasso und die eilige Großmalerei eines Georg Baselitz.

Man kann an einem solchen Durchmarsch die ungeheure Beliebigkeit beklagen, mit der moderne Kunst sich in jede Situation fügen läßt, oder ihre stoische Haltung rühmen: Mag auch der Sturm an der Oberfläche toben, am Grund des Meeres bleibt es ruhig. Für Joachimides und Rosenthal zumindest liegt in dieser vielfältigen Nutzbarkeit die wesentliche Qualität der Kunst des 20. Jahrhunderts: „Wenn wir diese Epoche in der Spannweite von Picasso bis Kounellis und von Malewitsch bis Gary Hill verstehen, so heißt das, daß wir sie als ein Kontinuum betrachten.“

Ein solches Kontinuum stellt sich wohl zwangsläufig ein, wenn man an die 400 Arbeiten von 120 Künstlern und einer Handvoll Künstlerinnen zusammenträgt. Dabei war schon die Mammut- Auswahl ein Drahtseilakt, „es hätten auch 500 Künstler mit 3.000 Arbeiten sein können“, so die Warnung der Ausstellungsmacher. Oder noch ein paar tausend mehr, schließlich ist nach Beuys jeder Mensch ein Künstler, wenn er nur will und ein anderer ihn in seinem Begehren auch so versteht. Als Joachimides 1982 auf der documenta VII die Idee zu seinem Projekt kam, war Beuys der erste gewesen, der aufsprang und sagte: „Ich bin dabei.“

Kampf der Ismen, Muff der Erbaulichkeit

Solche Anekdoten hat der bald 65jährige Grieche in Berlin stets parat, wenn man ihn darauf anspricht, warum eine dermaßen uferlose Show mit einem Budget von immerhin 16 Millionen Mark Lottogeldern überhaupt konzipiert werden mußte. Bedenken gibt es genug: Die Künstlerliste ist bekannt, die Kombination ähnlicher Arbeiten wird in bald jedem Museum von Stuttgart bis Stockholm gezeigt, und für die Fortbildung in Sachen Moderne liegen meterweise Kataloge bereit. Eigentlich ist das Thema erschöpft, und die erneute Sichtung der gängigen Ismen und Stationen hat, wenn überhaupt, dann mit dem Muff der Erbaulichkeit schwer zu kämpfen.

Alles, was sie schon immer mal über die Kunst des 20. Jahrhunderts wissen wollten – voilà, hier stehen nun die Originale. Für eine solche Überblicksschau braucht man allerdings keine Essayisten, als die sich die Ausstellungsmacher mit ihrem Konzept verstehen. Ganz gewöhnliche Museumsleiter hätten es auch getan. Der penetrante Verweis auf den Charakter der Ausstellung als ein Testprogramm für Kenner, Laien und Familien macht die Angelegenheit jedenfalls nicht attraktiver: Mutti, der Mann mit dem Koons ist da.

Viel auffälliger ist dabei, daß Frauen fehlen. Neun Künstlerinnen mit einer „wirklich eigenständigen Haltung“ haben Joachimides und Rosenthal für ihren Rückblick auf das 20. Jahrhundert gefunden. Man muß kein Feminist sein, um zu bemerken, daß die Objekte von Louise Bourgeois, Georgia O'Keefes erotisch aufgeladene Blütenbilder oder Helen Frankenthalers raumgreifende Malerei fehlen. Norman Rosenthal fiel zu diesem Mangel an Umsicht und Sachkenntnis nur eine dumme Bemerkung ein: „Wenn Sie in ein Konzert mit moderner Musik gehen, finden Sie auch keine Frauen. Man kann die Wirklichkeit nicht ändern.“ Darüber hätten die Kuratoren allerdings vor der Planung ihrer Präsentation des Siegeszugs der Moderne nachdenken sollen. Keine andere Epoche war so ausdrücklich mit dem Anspruch angetreten, die Wirklichkeit zu verändern.

Doch das sind für den Generalsekretär im Hause Zeitgeist e.V. kleinkarierte Einwände, über die sich die Ausstellung hinwegsetzen will: Hatte nicht schon Adolf Hitler versucht, die „entartete Kunst“ auszulöschen – und dadurch die Gemeinde nur noch stärker gemacht? Für Joachimides war der Faschismus „ein unfreiwilliger Helfer“ der Moderne. Auf der Flucht vor den Nazis wurde New York anstelle von Paris zum Zentrum der Kunst, und nach dem Krieg kehrte sie – aufgefrischt durch die junge Garde der abstrakten Expressionisten – als „ecclesia militans“ und „moralische Instanz“ zurück. Die documenta – ein Kniefall vor der triumphierenden Moderne? Da scheint im Katalogvorwort der General ein bißchen mit dem Sekretär durchzugehen. Oder um bei der Chronologie zu bleiben: Es waren zunächst amerikanische Museen, die unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg Künstler aus Frankreich wie Picasso, Dubuffet, Matisse oder Braque in großen Retrospektiven zeigten. Umgekehrt dauerte es bis 1948, bevor Peggy Guggenheim parallel zur Biennale in einer Sonderschau unter anderem auch Jackson Pollock und Mark Rothko ausstellen konnte; de Kooning war erst 1954 auf der Biennale in Venedig zu sehen.

Geh aufs Ganze, gehe ins Museum

Aber was sind schon ein paar Jahre mehr oder weniger, früher oder später, wenn es ums Ganze geht: Schließlich soll „Die Epoche der Moderne“ eben nicht bloß den Abriß einer längst schon abgeschlossenen Geschichte der Avantgarde liefern, sondern noch einmal sämtliche Kräfte mobilisieren – gegen all jene notorisch Postmodernen und sonstigen Zweifler, für die das Projekt, Kunst und Leben zu vereinen, an den nicht gar so simplen Verhältnissen gescheitert ist oder an der totalen Musealisierung.

Tatsächlich war die Vorbereitung der Ausstellung ein ungeheuer langwieriges Unterfangen, weil andere Sammlungen ihre Meisterwerke nur ungern für längere Zeit ausleihen wollten. Daß man am Ende doch brillante Arbeiten wie Pollocks frühes Bild „Beschneidung“ von 1946 aus dem Guggenheim Museum bekommen hat oder die in wunderbar klaren Farben strahlenden „Boules-Spieler“ (1908) von Henri Matisse aus der St. Petersburger Eremitage, mag Joachimides auch als Sieg des Einzelkämpfers über die Institutionen verbuchen – während andere zäh um Beutekunst streiten. Der Weg nach Osten führte sogar bis ins Moskauer Museum für Flugwesen und Kosmonautik, wo Joachimides Wladimir Tatlins Apparatur „Letatlin“ (1929–1932) ausgeliehen hat. Das revolutionäre Aeroplan-Modell schwebt wie ein Saurierskelett aus Holz, Leder und Knochen recht poetisch von der Decke über dem Lichthof.

Für die Konflikte der Moderne dagegen haben sich die beiden Ausstellungsmacher auf ihrem beschaulichen Parcours nicht so sehr interessiert. Schon 1934 schrieb ein gestrenger Piet Mondrian seinem Freund Jean Gorin und lobte dessen Abkehr vom Staffeleibild: „Das ist in meinen Augen ein Fortschritt, denn wie Sie wissen, glaube ich an die letztmögliche Auflösung der Kunst. Es gibt jedoch ein Hindernis, und das sehe ich darin, daß Sie vielleicht Ihre Werke nicht so ausstellen sollten, als wären es Gemälde.“ Den Schaden hat jetzt Mondrian selbst: Seine geometrischen „Kompositionen“ von 1927/28 rahmen an drei Wänden einen zeitgleichen bronzenen „Vogel“ Constantin Brancusis, der Bildhauerei doch eher als „meditative Versenkung“ verstand.

In solchen Augenblicken muß man schmunzeln, wie sehr sich die Kunst mit ihrem Anspruch, absolut modern zu sein, schon in der Frühzeit verzettelt hat. Oder man ärgert sich über die späte Glättung der Brüche, die Joachimides und Rosenthal sich als Statthalter der Moderne geleistet haben. Oder man freut sich über den Ärger und wartet auf die nächste documenta. Der Baukasten der zwei kunstbeflissenen Herren mit Doktorwürden und Diplom ist für Catherine David keine Konkurrenz. Nicht einmal eine Ergänzung.

„Die Epoche der Moderne – Kunst im 20. Jahrhundert“. Bis 27.Juli im Martin-Gropius-Bau, Berlin. Katalog: Hatje Verlag, 668S., 59 DM