Ehret den Notstopfen

Deutsche Feierkultur: Morgen wird der Aachener Karlspreis an Roman Herzog verliehen  ■ Aus Aachen Kaiser Karl der Große

Da hänge ich1. Als wuchtiges Bildnis, im mächtigen Krönungssaal des alten Aachener Rathauses: Rotbemantelt hoch zu Roß und mächtig beschwertet hab' ich grad diesen Schlappschwanz Desiderius niedergemacht. Garstig grimm gucke ich aus meinem Vollbart heraus und sehe, wie da unten alles schick gemacht wird: Teppiche, Lampen, Stühle, Wandschmuck. Morgen früh fällt wieder das Himmelfahrtskommando ein. Seit 1950 geht das so.

Zweimal noch werden die Hunde heut nacht herumschnüffeln: Sprengstoffsuche. Morgen früh schleppt hurtig ein Bote das uralte Goldene Buch aus dem Sparkassen-Safe an. Um Punkt 10 Uhr wird ein letztes Mal der rote Teppich gesaugt. Dann kommen die Gäste hier hochgewandelt, vorbei an all den Fotografien früherer Preisträger, der „Ahnenreihe europäischer Größen“. Und um 11 geht's los. Internationaler Karlspreis.

Dieses Jahr holt sich ja ein später Amtsnachfolger von mir das Dreierpack aus Urkunde, Medaille und Geldpreis ab: Bundespräsident Roman Herzog als „Visionär eines Europas der Bürger“. Man liebt hier pompöses Brimbamborium. Und salbungsvolle Ansprachen, gegen die eine Sonntagsrede wie ein politisches Manifest daherkommt. Was ich da schon hören mußte.

Voriges Jahr wurde Beatrix die güldene Plakette umgehängt, davor Juan Carlos, Adenauer, Churchill, Kohl. Unterhalb Staatschefs oder Majestäten machen die es nur noch selten. Und dann stopfen sie diese Wandersippe an Wichtigmenschen in meinen Saal: Scheel, Bubis, Jo Rau, Edward Heath, Kinkel, Everding, sogar Fritz Walter. 1.100 handverlesene Gäste. Es wird eben, so Aachens Stadthalter, der stolze Oberbürgermeister, „prominent voll“. Hauptsache!

Manchmal muß ich herzlich lachen, weil ausgerechnet ich als Vorbild diene. In meinem Namen, verlangen die Preisstatuten, möge man etwas Epochales für Europa getan haben. Ich als Vorbild? Ich und Europa? Hoho! Ich habe Europa, in Ost wie West, durch Klinge vereint und durch Schwert befriedet. Die ganze alte Pracht hier in Dom und Rathaus ist alles Beutekunst von den blutigen Raubzügen meiner schaurigen Heere.

War halt ein ziemliches Gemetzel damals. Allein von den aufmüpfigen Sachsen habe ich einmal 4.000 Gefangene köpfen lassen, weshalb man mich auch den „Sachsenschlächter“ ruft. Karlsfreunde nennen mich trotzdem unverdrossen einen Pazifisten: Ich hätte diese Barbarenstämme damals nicht, wie es die alten Bücher schreiben, decollati (hingerichtet) sondern delocati (umgesiedelt).

1949 haben die Aachener ihren Karlspreis-Club gegründet. Ein wohllöblicher Kaufmann sammelte, so die Proklamation, „geistig überlegene und weitschauende Männer“ um sich: Honoratioren, Fabrikanten, auch den Bischof und den Oberbürgermeister. Aachen sei zu meiner aktiven kaiserlichen Zeit „Mittelpunkt der gesamten abendländischen Welt“ gewesen, und jetzt spüre man eine innere Verpflichtung, „die abendländische Einigung“ wieder voranzutreiben. Sechsmal auf einer Seite wird das Abendland beschworen. Von Europa keine Rede.

1974 haben sie gemerkt, daß die Demokratie vorangeschritten war und haben je einen Vertreter der Ratsparteien in ihren Kreis aufgenommen. Aber weiter vergab ein Privatzirkel einen Preis im Namen der Stadt. Die freut sich über die wohligen vaterstädtischen Wirkungen: „Unbezahlbar“, bejubelte einsten der Werbeamtsleiter, „da braucht man keine PR mehr zu machen.“

So ist das bis heute. Im Wochenrhythmus sind wichtige Vorabgeschichten zu lesen: Glücklicher Goldschmied und stolzgeschüttelter Grafiker vor fertiggestellter Urkunde. Würdevoller Bankchef mit Gedenkmedaillen. Wichtige Stadt-Offizielle bei der Präsentation des alibihaft begleitenden Open- air-Festes mit Konzerten, Imbißbuden und Saufständen. Vom Feiern verstehen die Nachfahren meiner Untertanen auch nichts mehr. Wenn bei uns in Alt- Aachen, also in Aquis Grani2, vor über tausend Jahren Krönungsfest war, wurden draußen auf dem Markt fürs Volk ganze Ochsen auf dem Feuer gedreht. Heute drehen Dutzende Fernsehkameras gediegene Bilder für die Gemeinen zu Hause. Die Regisseure müssen höllisch aufpassen, daß die besonders verdienten Honoratioren nicht genau dann im Bild sind, wenn sie beim Preisakt wieder einmal eingenickt sind.

Ich kann ja auch beobachten, was vorher so abgeht, etwa im Organisationsbüro des Rathauses: Einweisungsdienst einweisen. Straßenverkehrsamt anleiten für all die Umleitungen. Eskortenmanagement. Die Unterbringung der Ehrengäste. Grünflächenamt angehen wegen Petunienschmuck (Stücker 500). Koordination mit der Polizei (auch Stücker 500). Die Bewirtung, wo der Hofkoch, haha, Herzoginkartoffeln auffährt. Mit mehreren hundert Leuten muß der Zeremonienmeister planen, sagt er. Ein Full-time-Job über Monate. Alles für die eine Stunde. Schnell wird so ein OB-Büro zu einer kleinen Außenstelle des Auswärtigen Amtes. Und man muß so viele Spezialwünsche erfüllen. Wer der Gäste will, oft incognito, wann wohin – ins Museum, in den Dom, mit wem? Irgendwer will immer den Schrein mit meinen Gebeinen sehen. Manche Anfragen sind besonders diffizil: Wie groß ist die Auflagefläche des Rednerpultes, will ein Laudator wissen. Oder: Wie viele Stufen sind es hinauf zum kleinen Podest? Beim kleinen Mitterrand war das 1988 sehr wichtig, um abzuschätzen, wie er sich neben dem Hinkelstein-Format des Co-Preisträgers Kohl machen werde. Und dann mußten sie Urkunde und Medaille über Nacht nochmal prägen lassen, weil Mitterrand mit einem r zu wenig geschrieben war vom Kalspeis-Direktorium. War das peinlich.

Lange brüten die Planer immer über dem Riesenwälzer „Das Staatszeremoniell“. Da ist aufgelistet, welcher Gast wo plaziert werden muß. Leibhaftige Botschafter müssen, absolut penibel, humorlos streng nach Schaffenszeit plaziert werden: Je dienstälter desto mittelgang- und somit würdenträgernäher. Sagt einer in letzter Minute ab, gerät das fragile Gebilde sofort ins Schleudern. Nervige Filigranarbeit – aber am Ende fällt vom Glanz der Großen auf alle etwas ab.

1984 war ein schwarzes Jahr für den Preis. Erst kam Preisträger Carstens angewandert aus Europas tiefen Weiten, und mit ihm erstmals Tumulte und iactus versicolores ex saccis3. Dann kamen gar grüne Menschen in den Stadtrat und damit ins Karlspreis-Gremium. Ein wackerer Grünmann machte sich auf einen schweren lokalen Institutionenmarsch und erlebte Kungel, Klüngel, Mauscheleien ohne Ende, sprach von einem „aberwitzigen Fehlen jeder Diskussionskultur“. Entsetzt nahm er wahr, wie die „Vertreter der Wirtschaft ihre Verknüpfungskandidaten“ wegen lockender Geschäftskontakte durchsetzen und die politisch Vorgestrigen immer wieder Otto von Habsburg ehren wollten – um das Europa des Mittelalters wiederzubeleben.

1987 dann der Eklat: Die Herrenrunde boxte mit aller Macht Henry Kissinger durch, diesen ausgewiesenen Freund eines europäischen Atomkriegsschauplatzes. Gegen alle Widerrede und gegen das alte Konsensprinzip des Direktoriums. Der Grüne und mit ihm der Sozi demissionierten mit Getöse. „Maximaltumult“ meldeten die Gazetten, „total verrückter Wirbel“. Der elitäre Herrenzirkel mit seinen „geborenen Mitgliedern“, der immer glaubte, eine Art kleinen Friedensnobelpreis zu verleihen, sah sein Lebenswerk bedroht. Schnell gab man sich eine Satzung, nach der man „dem Weltfrieden dienen“ wolle. Heute sind Rote und Grüne als Feigenblätter wieder dabei.

Was da gekachelt wird in der Geheimrunde! Aber nicht weitersagen: Dieses Jahr wollten die Alteingeborenen am liebsten, wie schon 1988, noch mal den Kohl haben. Dann, genauso ernsthaft, den Euro-Waigel. Aber der bekam schon im Februar den anderen Aachener Selbstdarstellungspreis: Orden wider den tierischen Ernst. Hätte ihm dann nur noch der Große Preis beim Reitturnier gefehlt.

Die liberale Seite plädierte für den Violinisten Yehudi Menuhin. Doch mit schnöden Kulturkandidaten konnte sich die staatsmännische Fraktion nicht anfreunden, zu wenig Medieninteresse, wurde geargwöhnt. Als interne Probeabstimmungen trotzdem zu Menuhin tendierten, wurden im Zirkel gezielte Desinformationen gestreut, dem gebrechlichen Mann sei die weite Reise nicht mehr zuzumuten. Wenn der hier kollabiere! Nur hatte niemand den Musiker je kontaktet. Das Ganze wurde öffentlich. Sein Manager teilte verblüfft mit, der alte Herr (80) sei topfit und mache noch jeden Tag seine hundert Kopfstände. Welche Schande in meinem Namen! Ich bin in meinem Bilderrahmen fast rot geworden.

Roman Herzog ist halt nichts als ein eiliger Notstopfen. Eine Art nachrückender Kompromiß und gleichzeitig Vorrücker, denn der sollte eigentlich erst zu seinem Amtszeitende 1998/99 bedacht werden.

Alles in meinem Namen. Als Mensch müßte ich heute eigentlich ziemlich unten durch sein. Vor allem als Mann: Hab' mir die jungen Dinger damals geschnappt wie ich wollte. Eine 13jährige geehelicht! Sechs Konkubinen und Haushälterinnen schenkten mir sieben Kinderlein. Vier Karls-Gattinnen gab es, europaweit angeheuert übrigens. Meine vielen Töchterlein hab' ich am Hofe gefangengehalten und, wie mein Biograph schrieb, „aufs Herzlichste geliebt“. Es habe den „Verdacht des Fehltritts“ gegeben. Zum Glück gab es damals noch keine acta versicolora4.

Draußen ist alles wie geleckt. Eilig hat das Orga-Büro noch „diese schrecklichen Graffiti- Schmierereien“ rund um Rathaus und Dom entfernen lassen. 15.000 Mark streicht die Sandstrahlfirma ein. Der Hochbauamtsleiter sagt, das entspräche genau der Summe Geldes „für die notwendige Renovierung eines Kindergartens“. Die Stadt sagt, die Belastungen der Steuerzahler seien „angemessen niedrig im Verhältnis zur Werbewirksamkeit“.

Aber bitte keine kleingeistigen Geldstreitereien. Unten, in einem Nebenraum, sehe ich Konsul Hugo Cadenbach (80). Ein steinreicher Privatbankier (Bankhaus Delbrück), Honorarkonsul der Niederlande und der Chef, sprich „Sprecher des Karlspreis-Direktoriums“. Steht da vor einem anderen meiner vielen Karls-Bildnisse und erläutert sein Wirken als europadurchwirkter Berufs-Aachener. Der Karlspreis, salbt er, sei längst „ein fester Bestandteil der Geschichte des europäischen Einigungsstrebens“.

Zu teilen bittet er seine „besondere Freude“, daß er den 1982er Preisträger Juan Carlos als 97er Laudator gewinnen konnte. „Der spanische König wird seinen Staatsbesuch in Rußland extra um einige Stunden verkürzen. Einen besseren Beweis für die enge Verbundenheit des Königs mit Aachen gibt es nicht.“ Ist es nicht schön? So klingt das offiziell.

Wenn jedoch Direktoriumsmitglied Dieter Philipp, nebenher deutscher Handwerkspräsident, das Wahlgremium in sein karges Sitzungszimmer lädt, herrschen ganz andere Töne. Besonders dieses Jahr war die Stimmung unter Cadenbach, Domprobst, Hochschulrektor, all den anderen Lokalfürsten und dem „gewählten Weltbürger“ Peter Scholl-Latour „giftig, heftig, sehr aggressiv“. So hat mir mein Gewährsmann geflüstert. Und der war dabei. Auch als es um Menuhin ging: „Daß da nicht mit Messern aufeinander losgegangen wurde ...“

Seien Sie also, werter Notstopfen, Aushilfspreisträger und Bundespräsident Herzog, willkommen in der Schar solch engagierter Karlspreis-Kämpfer. Sind es nicht vielleicht diese, die meiner fast schon würdig sind? Mir, der ich immer ein wahrhaft toleranzfrei kreuzfahrender Wüterich war, gespeist vom heiligen Glauben, machtfreudig, egozentrisch, maßlos. Salvete tazzetInnen!5, Euer Kalle Kaiser. Protokoll: Bernd Müllender

1 K. Karl, ca. 742–814, Karolingerchef, Kaiserkrönung 800 in Rom, Hauptwohnsitz Aachen, schreibt erstmals für die taz.

2 Lateinischer Name für Aachen: „Bei den Granus-Wässern“, Granus: alter Keltengott.

3 Wörtlich übersetzt: „Vielfarbige Würfe aus Säcken“. Unser Autor meint vermutlich: Farbbeutelgeschosse.

4 lat.: Regenbogenpresse.

5 lat.: Tschüs zusammen, liebe taz-LeserInnen.