Unglück überfällt das Land

Ödipus in Moabit: Steven Berkoffs Klassiker-Adaption „Greek“ in der rasanten, zwischen Slapstick und Mythos oszillierenden Inszenierung von Donald Berkenhoff im STÜKKE-Theater  ■ Von Axel Schock

„Mutterficken leichtgemacht.“ Zugegeben, ein nicht gerade gewöhnlicher Werbespruch für eine Theaterproduktion. Das STÜKKE-Theater präsentiert Mutter- und Sohn-Inzest samt Vatermord in Moabit, und wer da einerseits an Sophokles, andererseits an die fetten, roten Schlagzeilen der B.Z. denkt, liegt bei beidem nicht falsch. Donald Berkenhoff, Regisseur und Ausstatter in Personalunion, hat nämlich auch gleich noch die Stückvorlage des Briten Steven Berkoff von der tristen Thatcher- Realität Londons in Berliner Proletarierdasein übersetzt.

Alles ist so, wie man's irgendwie schon kennt von Ödipus. Ein Seher prophezeit die Schmach. Unglück überfällt das Land für das ungesühnte Verbrechen. Und die Sphinx weiß ein Rätsel, das keiner löst. Die steht im Museum gleich neben dem Pergamonaltar, der Weissager sitzt in Gestalt eines Zigeuners in einer Jahrmarktsbude auf dem Deutsch-Französischen Volksfest. Und die Pest überfällt zur Strafe Deutschland und stürzt die Welt in Chaos, Angst und Schrecken. Berkoffs/Berkenhoffs Ödipus-Variation ist alles auf einmal: Persiflage, Zeitgeist-Adaption und Slapstick, Comedy und Mythen-Potpourri. Auf alle Fälle aber ist sei ein theatraler Alptraum.

Da sitzt die gnadenlose Proletarierfamilie in ihrer schäbigen Küche und knirscht über das ausgestreute blütenweiße „Catsan“. Die Mutter (Marina Schütz), ein armseliges, geschundenes Wesen, der Vater (Rainer Reiners) Hitlerfan und von der Vision des alten Zigeuners dann doch ein wenig eingeschüchtert. „Du bist doch nicht scharf auf deine Mutter, oder?“

Der Sohn muß raus. Raus aus dem Mief der Eckkneipen und der Wohnungen, wo die Pfandflaschen das Jahr über für das weihnachtliche Schultheiss-Gelage gesammelt werden. Raus in die Welt. Nicolas Weidtmann kotzt sich den Ekel über das jämmerliche Dasein von der Seele.

Sein Eingangsmonolog hat den grotesken Humor guter Stand-up- Comedies und beschreibt dennoch die Tragik aussichtslos verkorkster Existenzen aufs bitterste. Die Welt da draußen beschert ihm zunächst einen Mord und eine junge Witwe (Xania Fitzner) zur Gefährtin. Ihr Café macht er zu einem Fast-food- Imperium, und die Welt rettet er von der geheimnisvoll wütenden Pest.

Weidtmann, der Ödipus namens Eddy, ist die zentrale Figur des Abends – und der heimliche Star inmitten des durchweg pointiert agierenden Ensembles. Sein zorniger Eddy, der mit banalen, treffend karikierenden wie charakterisierenden Slapstick-Kalauern für reichlich Gelächter sorgt, ist im nächsten Moment ein mephistophelischer Machtmensch und geheimnisvoller Verführer. Gefährlich aasig und doch auch stilvoller Karrieretyp. Sein Zähnefletschen unheilvoll und doch auch galantes Lächeln.

Wie der Text selbst vom rüden Hinterhofslang samt derbstem Vokabular in metaphernreiche, zarte Poesie mit Bukowskischer Sexual- Hymnik und dann in geradezu barocke, stürmische Rhetorik fließend hinübergleitet, spielt auch Berkenhoffs Inszenierung auf vielen Ebenen. Das STÜKKE-Theater verdankt ihm einige ihrer besten Produktionen. Mit „Greek“ knüpft er an seine Vorliebe für Brüche innerhalb der Theaterfiktion an, wie bei seinen Inszenierungen von David Greenspans „Tote Mutter“ und „The HOME Piece Show“.

Schauspieler treten aus ihren Rollen heraus, pflaumen auch mal den Techniker an, und ein Plakat weist uns Zuschauer an: „Das Füttern der Schauspieler während der Vorstellung ist verboten.“ Bei der deutschsprachigen Erstaufführung von „Greek“ im Februar in Kassel verpuffte der Kontrast zwischen dem überhöhten Pathos der ernstgenommenen antiken Fabel und dem grellen Alltags-Szenario. Berkenhoff, der intellektuelle Entertainer, spielt ihn mit ständig neuen szenischen Einfällen bis ins Letzte aus. Mal spoken poetry präsentierend, dann die klangvollen Verse inbrünstig rezitierend oder die verbale street credibility bis zum Exzeß ausreizend, treibt er den modernisierten Mythos als wahnwitzige Comedy an ihr vorhergesehenes Ende.

Mit einem kleinen Unterschied: „Warum soll ich mir auf griechische Art die Augen ausreißen?“ fragt sich Ed. „Scheiß auf alles.“ Der Ödipus von heute und seine Familie finden die Katharsis, die ersehnte Läuterung, andernorts: als Talkshow-Gast bei „Ilona Christen“, „Bitte melde dich“ & Co. Und da sehen wir sie aus den Fernsehgeräten reden, weinen, flehen – bis zum Abspann.

Bis 16. Juni, Do.–Mo., 20.30 Uhr, STÜKKE-Theater, Hasenheide 54, U-Bahnhof Südstern