Dammbruch bei der Sterbehilfe

Selbsthilfegruppen kritisieren die Sterberichtlinie der Bundesärztekammer. Über Leben oder Tod sollen Außenstehende nicht entscheiden  ■ Von Klaus-Peter Görlitzer

Frankfurt/M. (taz) – Zunehmend auf Ablehnung stößt die von der Bundesärztekammer (BÄK) geplante „Richtlinie zur ärztlichen Sterbebegleitung und den Grenzen zumutbarer Behandlung“. Die Richtlinie in Sachen Sterbehilfe, vor 14 Tagen vom BÄK-Vorstand als „Entwurf“ publiziert, hat ein lebhaftes Echo ausgelöst – Kritik allenthalben, zum Teil auch völlige Ablehnung.

„Erschüttert und in größter Sorge“ ist der Bundesverband für Schädel-Hirn-Verletzte und Patienten im Wachkoma. „Entgegen den uns vorliegenden Zusicherungen von Präsidenten der Landesärztekammern geht der Richtlinienentwurf von tödlichen Voraussetzungen für die Patienten im Wachkoma aus“, sagt Armin Nentwig, Vorsitzender des Selbsthilfeverbandes. Das BÄK-Papier erlaubt, lebenserhaltende Maßnahmen bei Bewußtlosen abzubrechen, „wenn dies dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Patienten entspricht“. Der „mutmaßliche Wille“, warnt Nentwig, „kann verschiedenartig interpretiert und ausgelegt werden“, Außenstehende könnten und dürften ihn nicht festlegen.

Diese Sorge teilt Therese Neuer-Miebach von der Bundesvereinigung Lebenshilfe für geistig Behinderte. Daß die Vorschläge zur Stärkung des mutmaßlichen Willens „zeitlich parallel zu verstärkten gesundheitsökonomischen Überlegungen kommen“, sei „perfide“. Außerdem kritisiert Neuer- Miebach, daß Menschen mit schwersten Behinderungen „diskriminiert“ würden. Gemäß BÄK- Richtlinie hätten „Neugeborene mit schwersten kongenitalen Fehlbildungen“ nicht automatisch ein Recht auf Leben und medizintechnische Behandlung. Für „ein Unding“ hält Neuer-Miebach, daß die Eltern entscheiden sollen, ob ihr behinderter Nachwuchs am Leben gehalten werden soll.

Eine Ergänzung der Richtlinie fordert die Deutsche Hospizstiftung. „Es fehlt“, sagt Sprecher Michael Golek, „der Hinweis auf die Alternativen zur aktiven Sterbehilfe: die Palliativmedizin, also die Schmerztherapie, und die Hospizarbeit.“ Oft entspringe der Todeswunsch von Patienten einer depressiven Stimmung oder übergroßen Schmerzen. Das müsse nicht sein: „Die Palliativmedizin“, erklärt Golek, „ist fast immer in der Lage, Schmerzen auf ein erträgliches Maß zu reduzieren.“

Weitgehende Zustimmung kommt dagegen aus Bonn – nicht aus den schweigenden Ministerien, sondern von Ludger Honnefelder. Der Philosoph, der im Auftrag der Bundesregierung an der umstrittenen Europäischen Bioethik-Konvention mitgeschrieben hat, hält den Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen für „vertretbar, wenn der Begriff des mutmaßlichen Willens hinreichend eng gefaßt wird“. Honnefelder veranstaltete vor zwei Jahren eine Umfrage unter 1.200 deutschen Ärzten, um zu ermitteln, ob und unter welchen Umständen sich Mediziner vorstellen können, bewußtlose Patienten durch Entzug künstlicher Ernährung verhungern zu lassen; die Ergebnisse der Studie sind noch immer nicht veröffentlicht worden.

Mit der Sterberichtlinie wird sich Ende Mai auch der 100. Deutsche Ärztetag in Eisenach beschäftigen. Kontroversen sind wahrscheinlich. Der Vorsitzende des eher konservativen Ärzteverbandes Hartmannbund, Hans-Jürgen Thomas, hat schon erklärt, er sei mit mehreren Passagen nicht einverstanden; es könne keinem Arzt zugemutet werden, für das Sterben einzutreten. Im Raum steht zudem der Appell des internationalen Kongresses „Medizin und Gewissen“, den über tausend Mediziner Ende Oktober in Nürnberg per Akklamation angenommen hatten, nachdem der Psychiater Klaus Dörner an die Verbrechen deutscher Ärzte unter NS-Herrschaft erinnert hatte. „Die Ausweitung der Sterbehilfe auf Nicht-Sterbende“, so die Absage von Nürnberg an neue BÄK-Richtlinien, „wäre ein Dammbruch mit nicht mehr zu begrenzenden Folgen und eine Annäherung an die Nazi-Euthanasie.“