Wochenpost
: Mehr Nervosität wagen

■ Das Rezept für die städtische Zukunft: Spaß und Sex und Ungeduld

Der Ereigniskanal Phoenix ist noch nicht im Berliner Kabelnetz, und so bleibt man vorläufig auf altmodische Nachrichtenübermittlungen angewiesen, was um so schöner ist, je weniger man selbst ausgeht. Obwohl man natürlich die Pressekonferenz im Roten Rathaus, bei der das Regenwasser durch die Decke floß, gern live gesehen hätte. Üblicherweise jedoch produziert gerade das Abgleichen von Augenzeugenberichten mit den offiziösen in „Ahmschau“ und Lokalzeitungen die Lücke, in der man sein Städtchen erkennt.

Daß Mark Palmer vom American Business Center zu Protokoll gegeben hat, Berlin fehle lediglich „mehr Spaß und Sex“ zu seinem Glück, das überlieferten natürlich alle. Eberhard Diepgen hat diese These nicht kommentiert. Doch zum Thema Nervosität in großen Städten habe er gleich nervös zu flattern begonnen; das erbrachte ein längeres Telefonat mit einem, der dabeigewesen, und das gibt allerdings Hoffnung. Wer so leicht somatisiert, kann kein schlechter Bürgermeister sein. Er braucht nur anspruchsvollere Gesprächspartner. Und wer weiß, wenn sich zu den handverlesenen Butz und Kleemann und Landowsky weltläufigere Berlin-Bewohner gesellen, wird noch was aus ihm.

Beglückend, weil vollkommen deckungsgleich mit eigener Anschauung, wirkte der Bericht über Berliner Kellner in der Berliner Zeitung, in dem eine Annett Schreier, die im „Einstein“ kellnert, zitiert wird. Sie begreift nicht, warum der Berufszweig, der grundsätzlich jeden Blickkontakt mit der Kundschaft vermeidet, so heftig kritisiert wird: Ihrer Meinung nach „sollten Gäste einen Blick über den Tellerrand werfen“.

So hat noch nie jemand die verkehrte Welt zum Berufethos erklärt. Praktisch ist es schon lange üblich, daß hier die Patienten Mitleid mit ihren Ärzten lernen, Passagiere durch die Lautsprecheranlage verhöhnt werden, wenn sie den Busfahrer morgens um zehn mit „guten Morgen“ begrüßen, und Journalisten ihre Chefs bedauern. Es geht auch anders. Doch das geschah in Hamburg. Dort wurde jetzt ein Chefredakteur von seinem Leiden erlöst: X Jahre derselbe Kanzler, y Jahre dieselbe Krise, da falle journalistische Zuspitzung schwer. Jetzt schindet sich ein anderer.

Und plötzlich begreift man, warum die Berliner Presse so ungern über das ewige Regime Diepgen klagt und warum auch Diepgen lieber Geduld fordert als Nervosität zeigt. In Hamburg weiß man schon: Wem langweilig ist, der ist langweilig. In Berlin lindert man Mißstände gern mit dem Verweis auf die Qualen anderer. Noch. Mechthild Küpper

wird fortgesetzt