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: Kreisen um die leere Mitte

■ Wim Wenders' „The End of Violence“ ist ein gewaltfreier Film über Gewalt

„Definieren Sie Gewalt“, fordert die Stuntfrau Cat. „Angst, Abwesenheit von Liebe“, antwortet der Polizist. „Ein Thema, mit dem man Geld macht“, sagt der Rapper. „Solange ich sie erwartet habe, hatte ich Angst. Aber als sie dann kam, hat sie mich befreit“, erklärt der Filmproduzent Michael Max.

Max (Bill Pullmann), der sich in Los Angeles ein Imperium mit Filmen wie „Creative Killing“ aufgebaut hat, ist verschwunden. Die zwei Männer, die ihn ermorden wollten, werden selbst umgebracht. Max' Frau, Paige (Andie MacDowell), die seine Geschäfte bisher gehaßt hat, übernimmt die Firma. Ein Polizist, der sich für Filme interessiert, untersucht den Fall von Max' Verschwinden, außerdem verliebt er sich in Cat, die in dem neuen Film von Max mitspielt. Und dann gibt es noch das Computergenie Ray (Gabriel Byrne), der im Auftrag des FBI ein Programm erstellt, mit dem die Bevölkerung überwacht werden kann. Dazu wurden riesige Kameras installiert, mit denen man den Menschen praktisch ins Schlafzimmer schauen kann. In einer Szene sitzt Ray vor Hunderten von Bildschirmen: Er beobachtet die Straßen, schaut in Wohnungen, wartet ab, ob sich ein Streit legt oder in Gewalt ausartet. „Dieses Überwachungsprogramm bedeutet das Ende der Gewalt, wie wir sie kennen“, sagt Rays Boß, ein FBI-Mann.

Alle Personen in „The End of Violence“ haben mit Gewalt zu tun. Die Gewalt verändert ihr Leben. Aber sie leben auch davon. Doch die einzigen, die in diesem Film Gewalt ausüben, sind ausgerechnet die FBI-Leute. Vielleicht ist es nicht möglich, Gewalt zu zeigen, ohne gleichzeitig Propaganda dafür zu machen. Aber sie nicht zu zeigen, heißt auch, dem Risiko aus dem Weg zu gehen. So scheint der Film immer um eine leere Mitte zu kreisen; „The End of Violence“ ist vor allem ein ungemein entspannter Film.

Wenders hat die verschiedenen Handlungsstränge so elegant ineinander verwoben, daß man manchmal das Gefühl hat, einem Ballett zuzusehen. Und es ist dann auch gar nicht so sehr die Auseinandersetzung mit der Gewalt, die im Gedächtnis haften bleibt, sondern die Art, wie Wenders erzählt. Ray ist gerade erschossen worden – man sieht ihn nur umfallen, danach bleibt sein Körper unsichtbar. Kein Blut, keine Wunde in Großaufnahme. In der nächsten Einstellung sieht man seinen ahnungslosen Vater (Samuel Fuller), der Beethoven vor sich her singt. Oder die Killer, die ihr Opfer nicht erschießen können: „Ich mag ihn“, erklärt der eine plötzlich.

Johnny Depps Regiedebüt „The Brave“ ist auf seine Art ebenfalls eine Definition von Gewalt. Die Musik klagt leise, als der Indianer Raphael (Johnny Depp) über die staubige Straße seinem Schicksal entgegengeht. Der Priester legt sich ergriffen den Gebetsschal um den Hals. Gleich wird Raphael zu Tode gefoltert werden – ein Vergnügen, daß sich ein Irrer (Marlon Brando) 50.000 Dollar kosten läßt. Für dieses Geld kann sich Raphaels Familie ein hübsches kleines Häuschen kaufen und muß nicht mehr auf der Müllkippe leben. Vielleicht wäre Ehefrau Rita auch damit zufrieden gewesen, wenn Raphael mit dem Saufen aufgehört und gelegentlich den Abwasch übernommen hätte. Aber ein Mann muß tun, was ein Mann nun mal tun muß. Wer will mit der Familie leben, wenn er für sie sterben kann? „The Brave“ ist ein klassischer Jungstraum – mit Liebesszenen vor untergehender Sonne und buntem Jahrmarktszauber, den Raphael für die ahnungslose Familie und die Leute auf der Müllhalde veranstaltet. Wenn seine Frau ihn einen nichtsnutzigen Säufer und Verbrecher schilt, sieht man in Depps hübsches, junges Gesicht und könnte weinen vor Rührung. Manchmal ist Gewalt einfach nur Kitsch. Anja Seeliger