Das Portrait
: Zwischen Revolte und Reaktion

■ Marco Ferreri

Gestorben: Filmregisseur Marco Ferreri Foto: AP

Marco Ferreri war ein merkwürdiger Filmemacher. Der 68jährige gehörte zu keiner Stilrichtung, zu keiner Generation, zu keiner Welle. Immer wieder gelang es ihm, das Bürgertum mit Filmen wie „Das große Fressen“ oder „Affentraum“ zu provozieren, mit Bildern von Männern, die sich zu Tode fressen oder mit dem Küchenmesser selbst kastrieren. Aber zugleich waren seine Filme für jenes europäische Bürgertum gemacht, das es liebt, sich gelegentlich vor sich selbst zu ekeln. Ferreri war, als Mensch wie als Filmemacher, Mahner und Genießer. Seine Lieblingsthemen, den sozialen Kannibalismus, das Ende des Patriarchats und die Dämmerung einer wahrhaft weiblichen Zeit, zelebrierte er wie eine mal süffisante, mal larmoyante Variante eines letzten Abendmahls. Überhaupt sind seine Filme komponiert wie Mahlzeiten. Fast immer hat man danach das Gefühl, sich an überwürzten Bildern und überladenen Symbolen überfressen zu haben.

Seinen ersten abendfüllenden Spielfilm, „El pisito“, eine böse Satire um Wohnungsnot und soziale Enge, drehte er 1957 in Spanien. Anfang der 60er Jahre kehrte er nach Italien zurück und begann mit „L'Ape Regina“ (Die Bienenkönigin) eine Reihe satirischer Filme, die trotz ihrer ungewöhnlichen Erzählweise und ihrer grellen Effekte auch Publikumserfolge wurden. Ferreri-Filme gehörten in den 60er und 70er Jahren zu den kulturellen Auseinandersetzungen zwischen dem alten katholischen und patriarchalischen Italien und der Liberalität einer neuen Generation. Sie waren schon einfach deswegen gut, weil sie die richtigen Leute ärgerten. Doch Ferreri gehörte zu den Kulturhelden jener Fraktion des revoltierenden Kleinbürgertums, die sich politisch nicht festlegen wollte. Und in den 70er Jahren hatte das Skandalöse seiner Arbeiten seinen kulturgeschichtlichen Ort verloren.

Ferreris Gesellschaftskritik ist so radikal wie unverbindlich: Das Böse (und Komische) in seinen Filmen ist das Gesellschaftliche des Menschen überhaupt, und alle Hoffnung, alle Rettung kommt nur aus der Flucht vor der Gesellschaft. Das Kino des Marco Ferreri ist viel weniger anarchistisch als antizivilisatorisch; die Revolte und die Reaktion sind da immer sehr nahe beieinander. Aber immer war es ein Kino mit dem Mut zur Selbstentäußerung, ein Kino starker Bilder und starker Emotionen, voll Lust und Ekel, Zorn und Zärtlichkeit. Georg Seeßlen