Lauter falsche Fährten

Freud mit Hitchcock & Co.: Die Frühjahrstagung der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung in Köln untersuchte das zwiespältige Verhältnis von Psychoanalyse und Kunst  ■ Von Clemens Pornschlegel

Seit ihren Anfängen unterscheidet sich die Psychoanalyse von anderen therapeutischen Ansätzen dadurch, daß sie ihre Bestätigung und Legitimation immer auch in der Kunst suchte. Entsprechend legte sie die Künstler nacheinander auf die Couch und wurde fündig: Kafkas Ödipus, Brechts Herzneurose, Goethes Mutterbindung, Mannsche Per- und Inversionen, Mozarts anale Freuden etc. Das Verhältnis von Psychoanalyse und Kunst ist dabei gekennzeichnet von Haßliebe, rivalisierender Komplizenschaft, manchmal von tiefer Verachtung. Sagen Kunstwerke tatsächlich die Wahrheit der psychoanalytischen Theorie? Setzen sie in die künstlerische Tat um, was Freud als die Strukturen und Figuren des Unbewußten entdeckte? Oder wissen Kunstwerke am Ende doch mehr als die Analytiker – und außerdem noch anderes? Ist die psychoanalytische Interpretation nicht bloß eine Verkürzung und Karikatur? Stürzt sie uns nicht in jene andere Krankheit namens „Interpretose“?

Die Befürchtung, die Analyse überziehe alles und jeden mit ihren monotonen und selbstgerechten Erklärungsmustern, ist so alt wie die Analyse selbst. Sie wird deswegen noch nicht richtiger. Die Beiträge der Kölner Tagung der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV) zeigten es, und zwar vorbildlich. Sie versuchten nicht, die Kunstwerke – ob Hitchcocks „Marnie“, Kleists „Penthesilea“, Hoffmanns „Struwwelpeter“ oder Malewitschs „Schwarzes Quadrat“ – nachträglich und unter der Hand zu pathologisieren. Ihr Anliegen war intelligenter.

Zum einen ging es darum, mit Hilfe der Kunst die theoretischen Annahmen der psychoanalytischen Theorie zu überprüfen und zu erproben. Die Kunst wurde nicht zum wehrlosen Zeugen der analytischen Weltweisheiten gemacht, sondern man versuchte, anhand der Kunstwerke das eigene Sensorium für psychische Vorgänge, Strukturen und Konflikte zu schärfen. Von der Genauigkeit des künstlerischen Blicks kann man lernen: G. Schneiders Betrachtungen des „Schwarzen Quadrats“ von Malewitsch, das er (mit Lacan) als Subversion narzißtisch- illusionärer Ich-Ganzheiten las, waren hier exemplarisch.

Kunst jenseits der Traumdeutung

Zum anderen ging es darum, das Verstehen von Kunstwerken durch die Erkenntnisse der Psychoanalyse zu bereichern. Die Psychoanalyse spielte sich also nicht als der allwissende Universalinterpret auf, sondern versuchte Phänomene sichtbar und benennbar zu machen, die andere Spielarten der Interpretation – werkimmanente, soziologische, formal-strukturale – per definitionem ausblenden.

Was die Psychoanalyse an Kunstwerken zeigen kann, machte der Beitrag von Eva Poluda-Korte deutlich. Er arbeitete die Widersprüche geschlechtlicher Identität in Kleists „Penthesilea“ heraus. „Penthesilea“ artikuliert die Schwierigkeiten und Verzweiflungen, denen Jugendliche im Prozeß der Identitätsfindung ausgesetzt sind. Der Übergang aus einer homoerotisch geprägten Kinder- und Jugendwelt in die heterosexuelle Welt der Erwachsenen geht einher mit der Angst vor dem Verschlungenwerden durchs andere Geschlecht. An dieser Passage wird das mörderische Liebespaar Penthesilea/Achill scheitern. Kleist stelle uns zwei Menschen vor, so Poluda-Korte, die noch unter dem unmittelbaren Verlust des jeweils wichtigsten Menschen in ihrem Leben stehen. In dieser Situation sind beide besonders anfällig für die große Liebe, die den Verlust heilen soll. Der Liebestraum endet im Desaster. Es gibt keine Instanz, die die geschlechtliche und soziale Identität der beiden absichern und ihnen die Wahrheit ihrer Wahrnehmungen, Empfindungen und ihrer Worte garantieren könnte.

Machte die Kleist-Interpretation Eva Podula-Kortes' auf die Stärke der psychoanalytischen Literaturinterpretation aufmerksam, so versuchte das Referat der römischen Analytikerin Jacqueline Amati-Mehler dem Prozeß artistische Kreativität aus der Perspektive eines konkretes „Falls“ auf die Spur zu kommen. Handelt es sich bei der Produktion von Kunst um die objektivierende Bearbeitung ungelöster Triebkonflikte, in denen untersagte Wünsche und ihre Verdrängungen zur Darstellung gebracht werden? Oder handelt es sich eher um den Versuch der Wiederherstellung einer frühkindlichen Welt, die geprägt ist von „omnipotentem, fusionärem und magischem Funktionieren“? Wie ist die Interaktion der beiden Ebenen zu denken? Kann die Analyse künstlerische Kreativität freisetzen?

Amati-Mehler rief an die Adresse all derer gerichtet, die's vielleicht noch nicht bemerkt haben, eindringlich ins Gedächtnis, daß eine Analyse kein kreatives Talent ersetzt (und zum Künstlersein ein wenig mehr gehört als wilde Träume und eine kranke Großmutter) und daß umgekehrt kreatives Talent deswegen auch noch nicht Analysen obsolet macht, auch nicht die von leidenden Künstlern.

Regelrecht verführen ließen sich AnalytikerInnen freilich durch die Fallen der Weiblichkeit, die Elisabeth Bronfen ihnen am Beispiel von Hitchcocks „Marnie“ so charmant wie brillant stellte und in die sie Freuds altväterliche Wahrheitssuche lockte. Hitchcock, weniger misogyn, als man glauben könnte, untergrabe Freuds allzu eindeutige Deutung der inszenierungssüchtigen Hysterikerin, indem er sich zum einen mit der Maskerade namens „Weib“ identifiziere, indem er zum anderen die Freudschen Erklärungsmuster ironisch zitiere: Es sind falsche Fährten unter lauter falschen Fährten. Damit decke Hitchcock die patriarchalischen, gewaltsam Identität zuschreibenden Prämissen dieser Muster auf.

Wie die Psychoanalyse nach dem Fall des Patriarchats aussehen könnte, wollte Elisabeth Bronfen nicht mehr verraten. Zu Recht! Denn erstens, steht zu vermuten, kehren die Vatergeister sowieso immer wieder, zweitens aber gäbe es dann auch das Geheimnis der Frau und den suspense nicht mehr. Denn die Frau „als solche“ ist genau das (und ist es deswegen natürlich auch nicht), was sich der „männlichen“ Identitätslogik entzieht. Wer mag auf solche Rätsel und Entzüge schon verzichten? Vermutlich war es ihre Attraktivität, die in Köln Fragen nach der sozialen und politischen Funktion von Kunstwerken und ihrer Deutung (die der Psychoanalyse inklusive) erst gar nicht mehr aufkommen ließ.