Der feste Punkt im Online-Universum

■ Während Videokunst immer mehr an Bastelstunden erinnert, hat das European Media Art Festival in Osnabrück mit dem Internet ein neues Forum für sich entdeckt

Plötzlich werden alle acht Bildschirme schwarz. Rechts oben erscheint auf dem Monitor ein grünes Rechteck mit einem Pfeil in der Mitte, der anzeigt, daß die Videofilme zurückgespult werden. „The Video Circle“ stammt von einer Künstlergruppe aus Hongkong und soll mit zeitversetzten Kurzfilmen „kollektive Kreativität und Freiheit“ kurz vor der Machtübernahme durch China reflektieren. Hongkong ist in diesem Jahr ein Schwerpunkt des Internationalen Medienkunstfestivals in Osnabrück. Doch diese Arbeit ist „temporarily out of order“ und wird von der Hardware-Ansammlung erst wieder zum Kunstwerk, wenn die Videos zurückgespult sind.

Wenn man so viel Medienkunst auf einem Haufen sieht wie in Osnabrück, läßt sich der Gedanke nicht unterdrücken, daß dieses Genre seine besten Zeiten hinter sich hat. Die großen Arbeiten, die in der Dominikanerkirche und einem mittelalterlichen Gefängnisturm mit dem kuriosen Namen „Bürgergehorsam“ im Halbdunkel ausgestellt sind, fesseln die Aufmerksamkeit selten länger als ein paar Minuten. Einzig das Environment „Under Lock and Key“ von der New Yorker Filmemacherin Beth B zieht den Betrachter wirklich in seinen Bann: Eingeschlossen in Knastzellen aus Stahl kann man Erlebnisprotokollen von Gefängnisinsassen zuhören.

Die „großen Namen“ der Medienkunst fehlen in Osnabrück. Dafür gibt es viele Arbeiten von Schülern dieser „großen Namen“, die dem Genre kaum Wesentliches hinzufügen. Da lösen die Sonnenwinde halluzinatorische Farbgewitter aus, die an die Wand geworfen werden (Keiichi Tanka: „Luminous – Cosmic Rays“); da können sich Ausstellungsbesucher in einer Fotokabine beim Küssen filmen lassen und die übrigen Zuschauer diese Filme per Knopfdruck an die Wand projizieren (Sera Furneaux: „Kissing“). Schließlich spielt in Dirk Vollenbroichs „Transform“ eine Videokamera mit einem Eisenbahnzug Fangen: subtile Kritik an der selbstzufriedenen Bastlermentalität, die viele der hier gezeigten Medienkunstwerke verbreiten?

Nur selten beweist die Medienkunst so unverkrampften Humor wie die beiden fröhlichen Gesellen, die mit Kameras auf dem Kopf durch die Innenstadt von Osnabrück flanieren und die dabei entstandenen Videos tags darauf auf zwei Monitoren zeigen. Auch die Performance „Hi, I'm Claire“ von Claire Shilito gehört zu den angenehmen Ausnahmen. Die Künstlerin ist anwesend: Die Britin lud die Besucher der Ausstellung einfach in ihr Hotelzimmer ein.

Daß bei der Kunst, die sich moderner Technik bedient, noch nicht alles verloren ist, zeigt die Sektion, die CD-ROMs und Kunst im Internet gewidmet ist. Und es beweist die Vorausschau der Organisatoren der Europäischen Medienkunsttage, die vor zehn Jahren aus einem Experimentalfilmfestival hervorgegangen sind, daß sie diesem Thema große Beachtung schenken. Die Russin Olia Lialiana etwa spielt bei ihrem „Netzfilm“ „My boyfriend came back from the war“ (www.cityline.ru/ lialia/war) mit einem der wichtigsten Gestaltungsmittel des Kinos: der Montage. Statt Bildsequenz an Bildsequenz zu reihen, verschachtelt sie immer kleiner werdende Bildkader zu einem mehrschichtigen „stream of consciousness“.

In den siebziger Jahren operierten Künstler mit dem Begriff „Site Specific“. Viele der in Osnabrück gezeigten Netzkunstwerke führen diese Idee weiter. Sie beschäftigen sich ausdrücklich mit ihrem „Ort“, dem Internet, und sind sozusagen „Digital Specific“: Heiko Idensen hat aus Hunderten von eingesandten WWW-Seiten eine Art „Schnappschuß“ des Cyberspace und seiner User zusammengestellt (www.uni-hildesheim.de/distance); die Gruppe „New Agora Projekt“ hat auf ihrer Site das „Zentrum des Internet“ (www.uni-kassel.de/sb22/ home/candela2/center) in dem eigentlich dezentralen Computernetzwerk verankert: Gebt mir einen festen Punkt im Online-Universum, und ich hebe das ganze Netz aus den Angeln...

Doch warum braucht man überhaupt noch ein Treffen von Netzkünstlern, wenn das Internet durch die zunehmende Zahl von Netzkunst-Sites langsam zu einem Museum wird, das 24 Stunden am Tag von überall in der Welt mit einem Online-Computer besichtigt werden kann? Das junge Genre der „net art“ hat einiges an Reflexion mobilisiert, und der Diskussionsbedarf ist groß. Darum gab es parallel zu der Präsentation von Internet-Arbeiten auch Vorträge und Gesprächsrunden, die sich in „Netzkritik“ übten. Und auch die Gemeinde der „Netizens“ scheint den physischen Kontakt im „wirklichen Leben“ von Zeit zu Zeit noch zu brauchen.

Im Foyer des Osnabrücker Hauses der Jugend saßen sie stundenlang in Gruppen vor den Computern und klickten sich gemeinsam durch das Internet. An diesen Anblick wird man sich bei Ausstellungen mit zeitgenössischer Kunst wohl gewöhnen müssen. Tilman Baumgärtel

Die Ausstellung ist noch bis zum 25.Mai in der Dominikanerkirche in Osnabrück zu sehen