Bildung ist mehr als nur eine Frage der Didaktik

■ Pädagogische Zuversicht und soziologischer Pessimismus. Zu Oskar Negts eben erschienenem Buch über Kindheit und Schule in einer Welt der Umbrüche

Mit Schulen verbindet sich seit je die Vorstellung, Bildung, Individuum und Gesellschaft steckten in einer Krise, und Bildungsreformen könnten den Weg in bessere Verhältnisse ebnen. Bildung erhält damit ein utopisches Element. Beides, Krisenanalyse und eine weitreichende Bildungsprogrammatik, ist auch Thema der eben erschienenen soziologischen Untersuchung von Oskar Negt „Kindheit und Schule in einer Welt der Umbrüche“. Negt ist bekanntlich einer der anspruchsvollsten Theoretiker der alten Neuen Linken und Mitbegründer und langjähriger Begleiter der Glocksee-Schule in Hannover. Er wendet sich mit seinen assoziationsreichen Überlegungen nicht nur an Fachleute; seine kraftvolle und klare Sprache wird auch ein breiteres Publikum erreichen.

Erziehung, das ist Negts Ausgangspunkt, kann nicht planmäßig betrieben werden. Mit Didaktik lassen sich die Wirkungen der Gesellschaft nicht ausschalten, die in Bildungsprozessen allgegenwärtig sind, und schon gar nicht lassen sich Kinder in den Griff nehmen. Deswegen geht es in den ersten beiden großen Kapiteln um den Zustand der Gesellschaft insgesamt sowie um den soziokulturellen Wandel von Kindheit und Jugend. Erst vor dem Hintergrund einer derartigen Analyse ist es sinnvoll, Vorschläge für eine Veränderung des Bildungswesens zu erörtern. Dies tut er in der zweiten Hälfte des Bandes. Negt schließt dabei an seine 1968 vorgestellte Idee des exemplarischen Lernens an.

So werden gegen blinden Fortschrittsglauben dem Leser zunächst die bedrohlichsten Manifestationen der Dialektik der Aufklärung geschildert. Negt geht davon aus, daß sich auch in den Schulen immer nachdrücklicher die Normen und Zwänge des Kapitalverwertungsprozesses durchsetzen. Das sind jene, die die soziale Identität der Individuen als eine unpersönliche institutionalisieren, so als wären diese Sachen: In den Betrieben sind sie Arbeitskräfte unter fremder Verfügung, und in den Schulen werden sie als deren Nachwuchs behandelt. Das Ergebnis ist die kulturelle Erosion der Gesellschaft eine grundlegende Strukturkrise der durch herkömmliche Berufsarbeit definierten Industriegesellschaft. „Es ist ein Zustand, in dem alte Normen nicht mehr gelten, aber neue Handlungsorientierungen, die Sicherheit im Alltagsverhalten verbürgen, noch nicht gefunden sind.“

Dieses Motiv klingt auch in den folgenden Kapiteln immer wieder an. Man kann gegen Negts kapitalismuskritische Diagnose zu bedenken geben, daß Versachlichungstendenzen in den Schulen der nichtkapitalistischen DDR ausgeprägter waren und daß in der westdeutschen Schulentwicklung bildungsökonomische Imperative kaum wirksam geworden sind. Mit großem Nachdruck haben sich hier in den vergangenen Jahrzehnten vielmehr demokratische Verhältnisse durchgesetzt, die der liberalen Staatsbürgerrolle entsprechen. So verzweifelt schmal, wie der Text gelegentlich nahelegt, sind die Grundlagen einer demokratischen Kultur in Schule und Gesellschaft inzwischen nicht mehr.

Die Alternativ-Schulbewegung ist dafür ein Beispiel. Umfangreich war sie nicht, wie Negt herausstellt; sie hat jedoch in der bildungspolitischen Öffentlichkeit ein großes Echo gefunden und wurde so zu einem bildungspolitischen Vorreiter. Die Darlegungen zur Glocksee-Schule und ihres soziokulturellen Kontextes sind deswegen auch heute bildungspolitisch noch immer von Interesse.

Daß Bildungsprozesse nicht nach dem instrumentellen Zweck- Mittel-Schema geplant werden können, daß der Unterricht Lebenspraxis ist und als solche wirksam wird, daß es keine von dieser Praxis unabhängige Erziehungstheorie gibt, ist der Schlüsselgedanke jener Kapitel, die fragen, was die Kinder und Jugendlichen lernen sollen und was die Schulen dafür tun können. Was die Pädagogik im Begriff des heimlichen Lehrplans nur andeutet und in seiner Wirkung unterschätzt, rückt Negt in den Mittelpunkt seiner weit ausgreifenden Überlegungen. Sie sollen zu einem demokratischen Fortschritt anregen, auch wenn dem hohe Barrieren entgegenstehen. Gero Lenhardt

Oskar Negt: „Kindheit und Schule in einer Welt der Umbrüche“. Göttingen, Steidl-Verlag 1997, 320 Seiten, 34 DM