Lady Joseph hat kein Kanu mehr

Eine Shell-Vertragsfirma riß das Dorfkrankenhaus ab. Danach starben die Leute an Cholera. Alltagsszenen aus Nigerias Ölfördergebieten  ■ Aus dem Niger-Delta George Frynas

Häuptling Ebila lädt in sein Wohnzimmer ein: ein Plüschsofa, zwei Armsessel und ein Tisch, auf dem Boden liegt ein Tierfell. Sein Geld verdient sich Ebila durch den Verkauf von Fellen an einen britischen Biologen. Deshalb geht er regelmäßig in den Regenwald zum Jagen. Der Häuptling empfängt seine Gäste mit jeweils einer Flasche Cola und einem Glas hausgemachtem Gin. Er entschuldigt sich, daß er nicht mehr bieten kann.

Ebilas Dorf Okoroba ist verarmt. Aber unter seinem Boden liegen unermeßliche Reichtümer. „Die Ölfirmen sind 1956 gekommen“, erzählt der Häuptling. „Immer wieder kommen Fremde in unser Dorf. Aber wie können wir davon profitieren?“

Okoroba liegt mitten im Delta des Niger-Flusses im Südosten Nigerias – eine der ölreichsten Gegenden der Welt. Man erreicht das Dorf nur mit dem Boot, an endlosen Mangrovenwäldern vorbei. Drei Viertel dieses Gebiets, wo unzählige Flußläufe unmerklich in den Atlantischen Ozean übergehen, sind mit Wasser bedeckt. Während der Regenzeit von Juli bis September werden einzelne Dörfer regelmäßig überflutet. Die Dorfbewohner leben vor allem vom Fischen; sie rudern in Kanus durch die Flußarme und fangen die Fische mit Speeren. Der nächste Einkaufsladen ist mehrere Stunden Bootsfahrt entfernt.

Seit vierzig Jahren bohren Ölfirmen in der Nähe von Okoroba – Öl sprudelt aber keines. 1991 ließ der britisch-niederländische Ölmulti Shell einen Kanal mitten durch das Dorf bohren, um Zugang zu einer Ölquelle zu bekommen. Weil das von der Regierung gebaute Krankenhaus im Weg stand, wurde es von einer Shell-Vertragsfirma abgerissen. Die Firma hielt es nicht für nötig, eine vom Gesetz geforderte Umweltstudie in Auftrag zu geben. Dann wurde durch den Bau des Kanals das Trinkwasser verseucht, und 25 Menschen starben an Cholera – die Kranken mußten per Boot in die Klinik in der nächsten Stadt gebracht werden. „Warum hat die Regierung nichts getan, als Shell das Krankenhaus zerstörte?“ wundert sich ein Bewohner von Okoroba. „Schließlich wurde das Krankenhaus von der Regierung gebaut.“

1991 bot die Ölfirma 90.000 Naira (damals umgerechnet 2.000 Mark) als Schadenersatz für die Zerstörung des Krankenhauses an. Die Dorfbewohner lehnten ab und forderten den Wiederaufbau. Nach ersten Zusagen begann Shell den Bau an anderer Stelle und gab nach kurzer Zeit wieder auf.

Trotzdem kündigte Shell in einer Werbebroschüre vor zwei Jahren stolz an, das Krankenhaus von Okoroba würde bis Ende 1995 fertig sein. Shell hatte nicht damit gerechnet, daß jemand das überprüfen würde.

Nachdem Fersehteams, CNN eingeschlossen, Okoroba besuchten, nahm Shell den Bau des Krankenhauses wieder auf. Ebila führt seine Gäste zur Baustelle. Ein Ingenieur und einige Arbeiter der nigerianischen Baufirma Decy verlegen Fußböden. Der Rohbau steht. Mehr nicht.

Häuptling Ebila steht am Sandufer des Kanals und zeigt auf das Wasser: Hier entstehen seit dem Kanalbau gefährliche Strudel im Wasser, die Kanus zum Kentern bringen. Die ehrwürdige 56jährige „Lady“ Joseph verlor so ihr Boot mit Lebensmitteln und Macheten. Ebila ist zwar gebildeter als viele nigerianische Häuptlinge, aber auch er sieht nicht den versprochenen Zusammenhang zwischen dem Kanalbau und Okorobas Fischereiwirtschaft. „Seit dem Kanalbau ist der Fischbestand in Okoroba durch verschmutztes Wasser und Strudel um 80 Prozent zurückgegangen“, erklärt Bruce Powell, Biologe an der Universität von Port Harcourt. Die Fischer müssen nun weit weg fahren und verdienen weniger als vorher. Daß sie ein Recht auf Schadenersatz für verlorene Einkünfte haben, wissen sie nicht.

Nun sieht Ebila dem nächsten Shell-Vorhaben in Okoroba mit Bangen entgegen: eine Sammelstelle, in der das beim Ölfördern entweichende Gas verbrannt werden soll. Über 80 solche Sammelstellen betreibt Shell in Nigeria. 24 Stunden am Tag wird hier Gas verbrannt. Kaum jemals werden die Anwohner gefragt. Auch Häuptling Ebila nicht.

Aber der Häuptling ist nicht gegen eine Zusammenarbeit mit Shell. Er wünscht sich „wirtschaftliche Entwicklung“, auch wenn er nicht zu sagen weiß, was development eigentlich bedeutet. Die Dorfleute warten auf die „wirtschaftliche Entwicklung“ wie auf ein Wunder.

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Unterhäuptling Edumeri in Anyama hofft nicht auf die Hilfe von Ölgesellschaften. In der Nähe seines Dorfes gibt es keine Ölquelle. „Wir müssen uns selber helfen“, meint Edumeri und zeigt auf den Stolz des ganzen Dorfes: die Gari- Fabrik. Gari ist ein aus Cassava hergestelltes Hauptnahrungsmittel vieler Familien hier. Während der Hungersnöte im nigerianischen Bürgerkrieg 1967-70 entwickelten nigerianische Ingenieure ein industrielles Produktionsverfahren für Gari – ausländischen Firmen war das mißlungen. Als der Gouverneur kürzlich Anyama besuchte, war er erstaunt, daß die Fabrik gänzlich von Nigerianern mit nigerianischen Materialien gebaut worden war.

„Wirtschaftliche Entwicklung“ passiert aber auch hier nicht über Nacht. Heute wird in Anyana ein „Leseraum“ eröffnet. Die Häuptlinge, von denen die meisten nicht lesen und schreiben können, sitzen an einem Tisch. Ein Dorfbewohner legt Bücher in die Regale. Edumeri hält eine Rede und zitiert Mahatma Gandhi. Es ist eine feierliche Stunde für das Dorf und für den Häuptling, der einen Kasten Cola spendiert.

Der Unterhäuptling ist selber pensionierter Schuldirektor. Nun will er die traditionell ausgerichteten Ältesten von der Notwendigkeit von Veränderungen überzeugen. Bisher werden die Dörfer von Häuptlingen regiert, denen ein Rat zur Seite steht. Jeder Mann im Dorf kann zum Häuptling gewählt werden. Entscheidungen im Rat werden meist im Konsens getroffen. Aber als vor kurzem der Häuptling von Anyama starb, konnten sich die Dorfbewohner nicht auf einen Nachfolger einigen. Sie beschlossen, daß die Anwärter auf den Posten jeweils ein Jahr lang Häuptling sind. Erst nach fünf Jahren wird dann die endgültige Entscheidung getroffen.

Der Leseraum entstand auf Anregung der nigerianischen Umweltgruppe Environmental Rights Action (ERA), die für die Rechte der Bewohner der Ölfördergebiete streitet. ERA stellte Geld bereit, um den Raum herzurichten und Bücher zu kaufen, und drängte auf die Wahl eines Komitees aus Männern und Frauen, die die nötigen Arbeiten ausführen. Dann veruntreute das Komitee umgerechnet 100 Mark. Mit dem Wohlwollen von ERA setzte der Rat es wieder ab.

Nun hat der Rat Angst, kein Geld mehr von ERA zu bekommen, falls die Menschen sich nicht einig werden. Denn noch immer streiten sich die Bewohner von Anyama. Vor dem Haus des Häuptlings beschimpfen sich lautstark der ehemalige Vorsitzende des abgesetzten Komitees und die ehemalige Schatzmeisterin. „Dies ist ein kleines Dorf“, entschuldigt Edeumeri. „Wir streiten uns oft, aber wir alle wollen Fortschritt.“

Godwqin Uyi Ojo, von ERA angereist, meint: „Die Dorfbewohner haben ein einfaches Weltbild: wir im Dorf und der Rest der Welt.“ Sie unterschieden wenig zwischen Fremden, ob es der Staat oder Umweltschützer sind. Unterhäuptling Edumeri führt jetzt das Komitee selber an und soll den Leseraum jeden Tag geöffnet halten. Das Projekt wird sich auch um Schulbücher kümmern, da weder Eltern noch die örtliche Schule dafür Geld haben.

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Im Dorf Sangana an der Küste gilt Wale als reich. Er ist nicht nur Unterhäuptling, sondern auch Bauunternehmer und besitzt zudem zwei Fischerboote. Aber er hat dieselben Probleme wie alle anderen: Die nächste Stadt Brass ist eine Stunde per Motorboot entfernt. Normalerweise kommt aus Brass jeden Morgen ein Motorboot. Manchmal dauert es aber zwei Tage, bevor ein Boot kommt. Vor ein paar Tagen hatte die Frau des Häuptlings eine schwere Blutung nach einer Fehlgeburt. Weil das Motorboot nicht kam, wurde sie in einem Fischerboot nach Brass gebracht. Da dauert mehrere Stunden. Keiner der beiden Ärzte von Brass war verfügbar. So mußte man sie in eine andere Stadt weiterbringen, nach Nembe, wieder ein paar Stunden entfernt. Auf der Fahrt starb sie.

Vor ein paar Jahren begann die US-Ölfirma Texaco in Sangana mit dem Bau eines Krankenhauses. 1980 war nämlich eine Texaco- Ölquelle in der Nähe explodiert. An den unmittelbaren Folgen starber fast 200 Menschen, und das Öl verschmutzte die ganze Küste. Noch heute findet man in der Nähe des Dorfes überall kleine Öltümpel. Texaco entschädigte die Dorfbewohner mit Geld und baute am Strand einen Zementwall, der künftige Schäden begrenzen soll.

Das Geld wurde für Konsumgüter ausgegeben. Sangana blieb arm. Seit Jahren gibt es nicht einmal mehr Strom, denn die Leitungen sind kaputt, und die staatliche Stromgesellschaft weigert sich, sie zu reparieren, weil die Dorfleute die Stromgebühren nicht zahlen. Unterhäuptling und Unternehmer Wale fragt: „Sie haben doch gute Stromgeneratoren in Deutschland. Können Sie nicht an die Welt appellieren, uns einen zu besorgen?“

Im Sinne von Entwicklung wäre es besser gewesen, wenn Texaco das Krankenhaus fertiggebaut hätte. Doch der Rohbau wurde aufgegeben. Die Ölfirma hat ihr Versprechen gebrochen.