Angst ist im Schach ein schlechter Ratgeber

■ Mit psychologischem Poker hat sich Kasparow der eigenen Schlagkraft beraubt

Es ist vollbracht! Was der indische Weltklassespieler Viswanathan Anand für das Jahr 2005 prophezeite, ist eingetreten: In New York hat der IBM-Computer „Deep Blue“ den amtierenden Weltmeister Garri Kasparow mit 3,5 zu 2,5 besiegt. Die Fachwelt staunt! Die erste Partie des Matches ging noch erwartungsgemäß klar an Kasparow. Aber in der zweiten Partie ereignete sich Mysteriöses: Statt sich wohlberechnet mit Material zu bereichern, spielte die Maschine in einer klassischen „Spanischen Partie“ auf Positionsvorteil im Stile des großen Rivalen Anatolij Karpow.

Kasparow war so verblüfft, daß er im entscheidenden Moment, als Deep Blue in gewonnener Stellung fürchterlich „daneben griff“, das rettende Dauerschach verpaßte. Erst einen Tag später wurde er von seinem Sekundanten vorsichtig informiert, daß er die Partie in einer Remisstellung aufgegeben habe. Kasparow erstarrte wie vom Blitz getroffen. Das war der Blamage erster Teil.

In der Folge versuchte Kasparow seinen Gegner durch ungewohnte Eröffnungszüge „aus dem Buch“ zu werfen. Es spielte ein für ihn untypisches Positionsschach. In der vierten Partie vermasselte Kasparow das Endspiel, und in der fünften Partie entwischte Deep Blue um Haaresbreite. Für den Weltmeister hatte sich damit die Lage bedrohlich zugespitzt. Um doch zum erwarteten Erfolg und 700.000 US-Dollar Preisgeld zu kommen, mußte er die letzte Partie mit den schwarzen Steinen gewinnen.

Kasparow wählte die Caro- Cann-Verteidigung, um der taktischen Schlagkraft des Computers auszuweichen. Die Wahl der Eröffnung aber offenbarte, daß sich das Duell längst vom Schachbrett in die Psychologie verlagert hatte. Kasparow hatte Angst davor, der Computer sei mit speziellem Anti- Kasparow-Material gefüttert. Aber Angst ist im Schach der schlechteste aller Ratgeber. Mit dem psychologischen Poker um die Eröffnungen hat sich Kasparow seiner normalen Schlagkraft beraubt. Entsprechend desaströs verlief die letzte und entscheidende Partie. Deep Blue setzte Kasparow mit dessen eigener Lieblingsvariante unter Druck.

Das muß zuviel der Psychologie gewesen sein. Kasparow spielte auf ausgetretenen Pfaden einen schwachen siebten Bauern-Zug und setzte einen noch schwächeren Damenzug hinterher. Von da an hatte er eine verlorene Stellung. Nach einer Stunde und nur 19 Zügen stand er vor den Trümmern seiner Stellung. Selten hat man einen Weltklassespieler wie einen Kreisklassespieler verlieren sehen.

Hat damit eine neue Ära im Computerschach begonnen? Die nähere Analyse zeigt: Noch nicht! Noch hätte Kasparow mit zweitklassigen Eröffnungen Deep Blue schlagen können. Sollte es zu einem Revanchematch kommen, muß Kasparow wohl weniger mit den Figuren als mit der eigenen Psyche trainieren. Direkt nach der Niederlage gab er sich kampfeslustig: Das nächste Match werde Deep Blue richtig Schach spielen müssen, und dann werde er ihn in Stücke reißen. Matthias Deutschmann

Der Autor ist Kabarettist. Er spielte jahrelang in der Schach-Bundesliga