CannesCannes
: Die stickige Decke der Familienbande

■ Zwischenfrage bei Halbzeit: Warum verehrt man, was man nicht liebt?

Gut die Hälfte aller Filme im Wettbewerb preisen die Familie. Aber alle Familien in diesen Filmen sind unglücklich. Von Liebe keine Spur. In Gary Oldmans „Nil by mouth“ wird die Ehefrau von ihrem alkoholsüchtigen Ehemann fast zu Tode geprügelt. Sie ist 30 und sieht aus wie 40. Sie war nie glücklich. Doch am Ende sitzt die Familie wieder traut beisammen. Warum zeigt Oldman das? Der Mann wird nicht aufhören zu trinken und seine Frau zu schlagen. In Johnny Depps Film „The Brave“ verkauft der Held sein Leben für seine Frau und seine Kinder. Er hat sich bis dahin nicht um sie gekümmert. Warum will er für eine Familie sterben, wenn er nie mit ihr leben konnte? In Ang Lees „Ice Storm“ ist die Ehe der Hoods am Ende. Er hat ein Verhältnis, seine Frau ist verbittert. Sie haben keinen Sex mehr, sie können nicht mehr zusammen reden, eine Ehetherapie ist fehlgeschlagen. Doch am Ende weint Ben vor Glück, daß die Familie noch vollzählig beisammen ist. Warum? Seine Frau und er werden weiter unglücklich sein. In Idrissa Ouedraogos Film „Kini and Adams“ basteln zwei Freunde jahrelang mitten in der afrikanischen Savanne aus Schrotteilen ein Auto zusammen. Sie wollen damit in die Stadt fahren und ein Taxigeschäft aufmachen. Adams Frau hält nicht viel von dieser Idee, deshalb versucht Kini, die beiden auseinanderzubringen. Am Ende hat Adams aus Eifersucht sein Haus kaputtgeschlagen, den Job verloren, und Kini ist tot.

Familienverehrung legt sich wie eine stickige Decke über diese Filme. Wie kann man etwas verehren, das man so wenig liebt? Dem lieben Gott sei Dank, daß es Franzosen gibt.

Philippe Harel erzählt in seinem Wettbewerbsfilm „La Femme Defendue“ die Liebesgeschichte zwischen einer jungen Frau und einem verheirateten Mann. Muriel (22) und François (39) haben sich zufällig auf einer Party getroffen. Er fährt sie nach Hause. Sie treffen sich wieder. Er macht kein Geheimnis daraus, daß er sie verführen möchte, sie will nichts davon wissen. Ein verheirateter Mann kommt nicht in Frage. Doch François ist gewitzt: Er argumentiert, wirbt, er lügt – und immer ruht die Kamera auf dem Gesicht des Mädchens. Er ist nie zu sehen. Wenn das Mädchen ihn ansieht, sieht sie in die Kamera. Das ist eine merkwürdige Situation, weil plötzlich wir, die Zuschauer, es sind, die um sie werben. Der ganze Film ist mit dieser subjektiven Kamera aufgenommen. Harel erzählt diese Geschichte aus der Sicht des Mannes. Muriel erliegt ihm (uns?), aber sie schlägt sich wacker. Sie läßt ihn bezahlen für die Situation, in die er sie gebracht hat. Sie und seine Frau. Sie fährt mit einem Freund ans Meer. François bittet sie, nicht mit diesem Freund zu schlafen – „Und du? Wirst du auch nicht mehr mit deiner Frau schlafen? Wie oft macht ihr es noch? Einmal im Monat? Weniger?“ gibt sie zurück. Immer sehen wir ihr Gesicht: Wenn sie einen Aidstest verlangt oder wenn François ihr erzählt, daß seine Sekretärin das Hotel bucht, in dem sie sich treffen. Und immer scheint sie uns zu antworten. Wenn François ihr auf den Anrufbeantworter spricht, weint und fleht, schweift die Kamera in der Wohnung umher. Nur einmal, als sie das erste Mal Schluß mit ihm gemacht hat, sehen wir ihn. Er sieht sich im Spiegel an. Muriel lernt einen anderen Mann kennen, der die ganze Geschichte François' Frau erzählt. François ist erschöpft. Er hat Angst, daß seine Frau ihn verläßt. Er sagt, er hätte nicht die Kraft zu einem Neuanfang. Muriel meldet sich nicht mehr.

Am Ende schreibt er einen Brief. Seine Frau und er werden sich nicht trennen. Sie versuchen so zu leben wie vorher. Er ist nicht glücklich.

Auch dies ist, wenn man so will, ein Film über die Familie. Aber vor allem ist es ein Film über die Liebe. Anja Seeliger