Zwischen Psychodrama und film noir

■ Neu im Kino: „Diebe der Nacht“von Andre Techine / Geschichten von Verbrechen im Familiensumpf

Ein Gangster stirbt, und die Familie trifft sich zur Beerdigung: Ein Eröffnungszug, bei dem man gleich erahnt, wie das Lichtspiel weitergeht. Wenn dann noch einer der Trauergäste – der verhaßte Bruder des Toten als Polizist präsentiert wird, glaubt man die Partie bis zum Ende hin voraussagen zu können. Merkwürdig nur, daß alles aus der Perspektive des kleinen traurigen Sohnes Justin gezeigt wird. Als er den Revolver seines Vaters stiehlt und versteckt, glaubt man wieder das dramaturgische Uhrwerk zu erkennen. Denn nach den Konventionen des gerade im französischen Kino so beliebten film noir wird diese Waffe beim blutigen Finale noch eine Rolle spielen.

Spätestens nach einem radikalen Wechsel der Perspektive – wenn die Kamera plötzlich den Polizisten Alex ein Jahr vor dem Tod seines Bruders beim Kennenlernen der jungenhaften Gelegenheitsdiebin Juliette folgt – verliert der Zuschauer das Gefühl dafür, was für einen Film er da gerade sieht. Eine der üblichen Kriminalgeschichten wird hier nicht erzählt, dafür konzentriert sich Regisseur Andre Techine viel zu sehr auf die komplexen Beziehungen und psychologischen Zwickmühlen der Protagonisten: Da ist der zynische Alex, der nur Polizist geworden ist, um so weit wie möglich von seiner kriminellen Familie zu fliehen. Da ist die selbstzerstörerisch labile Juliette. Da ist die kühle Philosophie-Dozentin Marie, die durch ihre Liebe zu Juliette auf eine tragische Lebenskrise zusteuert. Und da ist der kleine Justin, der miterleben muß, wie seine Familie sich auflöst und der seinen Onkel Alex nicht so hassen kann, wie es die Familientradition vorschreibt.

Die Geschichte des Verbrechens, bei dem Justins Vater stirbt, wird immer unwichtiger und eher beiläufig erzählt. Techine läßt auch die zum Anfang aufgebauten Spannungsbögen zusammenbrechen, so bleibt die Pistole etwa bis zum Ende des Films in ihrem Versteck liegen. All das entpuppt sich immer mehr als reine Kulisse, und davor entfaltet sich ein Familiendrama, das im Kern genauso gut in einem anderen Milieu angesiedelt werden könnte. Die wirklichen Diebstähle des Films sind eher emotionale Besitzergreifungen, die durch kein Gesetzbuch gestraft werden. Techine arrangiert diese Psychogramme sehr kunstvoll. Die Einteilung des Films in sieben Fragmente mit jeweils anderen Protagonisten gibt ihm die Möglichkeit, jeden einzelnen mit der gleichen Eindringlichkeit zu porträtieren.

Dennoch bleibt ein zwiespältiger Eindruck. Techine konzentriert sich so darauf, uns seine Figuren durch Gesten und ausgefeilte Dialoge zu erklären, daß sie merkwürdig blaß bleiben. Wir interessieren uns nicht wirklich dafür, was aus diesen Menschen wird. Und dies, obwohl sich mit Catherine Deneuve und Daniel Auteuil zwei der großen Stars des französischen Kinos große Mühe geben. So wie jede Figur des Films sich auf seine Weise barrikadiert hat, so wirkt auch der Film selber distanziert und kalt. Fatalistisch wie ein film noir, klinisch wie ein Psychogramm: Für seine stilistische Konsequenz kann man diesen Film bewundern, aber viel Freude hat man an ihm nicht.

Wilfried Hippen

Film läuft im City