Lebensgefährliches Wundermittel

Vor dem Giro d'Italia steht die gesamte Radbranche mal wieder unter Dopingverdacht  ■ Von Joachim Quandt

Dumm gelaufen für Claudio Chiappucci. „Il Diabolo“ ist der erste prominente Radprofi, der aufgrund der zu Saisonbeginn vom Internationalen Radsportverband UCI eingeführten Blutproben in die Dopingfalle geraten ist. Als sein Hämatokrit-Wert nach der zweiten Etappe der Romandie- Rundfahrt über dem erlaubten Limit von 50 Prozent lag, durfte er die Koffer packen und wurde für 14 Tage gesperrt. Doppelt dumm, denn damit verliert der am Samstag in Venedig beginnenden Giro d'Italia nicht nur einen seiner zentralen Protagonisten, sondern Chiappucci hatte im Moment der Kontrolle sowieso schon beschlossen, nach Hause zu fahren. Wegen einer Sehnenscheidenentzündung wollte er sich eben für den Giro auskurieren: „Ich habe mich der Blutprobe nur unterzogen“, kommentierte der Italiener die Vorfälle in der Schweiz, „damit es keine Zweifel an meinem plötzlichen Ausstieg aus dem Rennen gibt.“ Die gibt es nun erst recht.

Die ganze Geschichte begann vor ein paar Monaten mit den Enthüllungen des italienischen Arztes Sandro Donati über Doping im Radsport. Im Zentrum der Diskussionen steht das Wundermittel Eritropoyetin (EPO), ein, der Gentechnik sei Dank, synthetisch herstellbares Hormon, das im Körper für die Bildung der roten Blutkörperchen zuständig ist. Seit 1990 ist EPO auf dem Index des UCI, doch rund 80 Prozent aller Radprofis, so die Anklage Donatis, dopen sich mit dieser Substanz.

Die künstliche Steigerung der Anzahl der roten Blutkörperchen verbessert die Sauerstoffversorgung der Muskeln, was in Ausdauersportarten wie dem Radsport zu extremen Leistungsexplosionen führen kann. Zu diesem Zweck schickten die Ärzte ihre Schützlinge im düsteren Mittelalter der Sportmedizin ins Höhentraining. Der Körper reagiert hier zum Ausgleich des geringeren Sauerstoffgehaltes der Luft mit der Produktion roter Blutkörperchen. Dieses „rote Blut“ wurde den Sportlern abgenommen und kurz vor wichtigen Wettkämpfen als Autotransfusion wieder zugeführt. Nachteile des Unternehmens waren der große Aufwand und die hohen Kosten.

Dank EPO bildet der Organismus auch im Flachland massenhaft rote Blutkörperchen, und das nur mit ein paar Spritzen. Die sind allerdings auch nicht ganz billig: Der Schwarzmarktpreis schwankt nach Informationen der spanischen Radsportzeitschrift Cyclismo a Fondo zwischen 200 und 1.000 Mark für sechs Injektionen.

„Glaubt ihr wirklich, ich bin gedopt?“ fragte der Fahrer italienische Journalisten. „Ja? ... Ciao, ihr braucht erst Beweise.“ Chiappucci weiß nur zu gut, daß die keiner bringen kann, denn EPO ist in Analysen nicht nachzuweisen. Das verbotene Hormon verfügt über eine Lebenszeit von lediglich vier bis 13 Stunden und tritt außerdem auch natürlich im Körper auf. Die UCI behilft sich daher durch das 50-Prozent-Limit des Hämatokrit- Wertes, der normalerweise bei Sportlern zwischen 42 und 45 Prozent schwankt.

Als ihm bei der Baskenland- Rundfahrt im April ein sicher geglaubter Sieg kurz vor dem Ziel noch entrissen wurde, wetterte ein italienischer Profi aus dem zweiten Glied voller Frust gegen die allgemeine Dopingpraxis: „Die UCI- Regelung ist der Hohn. Diejenigen, die Geld haben, halten sich mit EPO genau im Limit, und wir anderen fahren hinterher. Das ist die Legalisierung von Doping.“ Kein Wunder also, daß für die Spitzenfahrer bei der Wahl der Mannschaften heute vor allem der Name des medizinischen Betreuers ausschlaggebend ist.

Das alles ist nicht ganz ungefährlich für die Fahrer: Bei einer hohen Anzahl roter Blutkörperchen wird das Blut dickflüssig. Für Leistungssportler, deren Pulsfrequenz in Ruhephasen bis auf 35 Schläge pro Minute absinken kann, birgt das erhebliche Risiken: Der Bluttransport verlangsamt sich, und die Gefahr von Blutgerinnseln und Thrombosen steigt. In Holland und Belgien ist es in den letzten Jahren zu einer Reihe plötzlicher Todesfälle unter jungen Radprofis gekommen, die mit diesem Phänomen in Verbindung gebracht werden. In den meisten Fällen wurde allerdings keine Autopsie durchgeführt, die die Zusammenhänge beweisen könnte.

Die Blutproben, über die Chiappucci stolperte, waren von italienischen Profis zu Beginn der Saison gefordert worden, allen voran von Gianni Bugno und Maurizio Fondriest – nicht zuletzt zum Schutz der eigenen Gesundheit. Da Doping mit EPO nicht nachweisbar ist, wird dem Fahrer eine Zwangspause verordnet, bis der Hämatokrit-Wert wieder im Rahmen des Zulässigen liegt.

Während die ersten Berichte die Anonymität aller Beteiligten wahrten, hat die Aufklärungsarbeit in Italien inzwischen Namen ans Tageslicht gebracht, die das Vertrauen in Chiappucci nicht gerade festigen. Ex-Profi Fabrizio Convalle gab vor der Anti-Doping-Kommission des Nationalen Olympischen Komitees zu, EPO auf dem Schwarzmarkt gekauft und eingenommen zu haben. Als seinen Kontaktmann nannte er den Arzt Michele Ferrari, der sich weigerte, zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen. Just in dieser Saison hat sich der charismatische Chiappucci in die medizinische Obhut Ferraris begeben.

„Ich bin kein Drogenabhängiger“, beteuert der Fahrer. In seiner zwölfjährigen Karriere hat er sich das Image eines ehrlichen Kämpfers aufgebaut. So richtig glaubt ihm das nun wohl nur noch Sandro Quintanelli, sportlicher Direktor in der neuen Asics-Mannschaft, für die der Italiener in diesem Jahr startet. In der Hoffnung, daß die UCI im Angesicht des „Diabolo“ doch noch weiche Knie bekommt und die Kontrollprobe vorzieht, nominierte Quintanelli seinen Kapitän trotz der Sperre für den Giro.