Mit dem Militär geht die Arbeit

Die vielleicht wichtigste Reform der Regierung Chirac ist die Militärreform. Brest, das alte Zentrum der französischen Kriegswerften, ist darüber gestrauchelt. Die Menschen nehmen's hin  ■ Aus Brest Dorothea Hahn

Am Ende der Welt ist wieder Ruhe eingekehrt. Vor wenigen Monaten noch waren zu Protestdemonstrationen gegen die Militärreform bis zu 25.000 aufgebrachte Menschen auf die Straße gegangen. Heute plätschert der Parlamentswahlkampf im Finistère vor sich hin. „Weg mit dem Plan!“ hatten die Menschen in Brest, der größten Stadt in dem weit in den Atlantik hinausragenden extremen Westen Frankreichs noch am Jahresanfang geschrien. „Man muß realistisch sein“, sagen sie heute.

„Verteidigung von Brest“, steht auf dem Wahlplakat von Jean- Noäl Kerdraon, dem Kandidaten der Sozialisten. Der Bärtige, den die Brestois „Tino“ nennen, hat vor langer Zeit selbst im Arsenal gearbeitet, in jener Stadt in der Stadt also, wo auf 390 Hektar Fläche hinter einer nach oben mit einem Metallgitter verstärkten Mauer die Spezialität von Brest hergestellt wird: Kriegsschiffe – von der Fregatte bis zum atombetriebenen Flugzeugträger.

Im Arsenal hat auch Tinos politische Karriere begonnen. Der einstige Funktionär der sozialdemokratischen CFDT, der stärksten Gewerkschaft in Brest, genießt bis heute bei den Rüstungsarbeitern den Ruf, einer der Ihren zu sein – auch wenn er über die Umstrukturierungen, die in Brest jeden vierten Arbeitsplatz vernichten werden, sagt, daß sie „unvermeidbar“ sind. „Ganz realistisch“, erklärt er, wegen der „geopolitischen Veränderungen“.

Der sozialistische Kandidat hat nichts Grundsätzliches gegen die Militärreform einzuwenden, das bislang einzige große Projekt von Staatspräsident Jacques Chirac. „Wir selbst haben das doch seit den 80er Jahren vorbereitet“, sagt er. Bloß die Form mißfällt ihm. „Der Schlag kam brutal“, sagt er, „Brest hätte Zeit gebraucht, um seine Industrie zu diversifizieren.“

Einen offensiven Wahlkampf gibt solch verhaltene Kritik nicht her. Wie die anderen Kandidaten auch, beschränkt Tino seine Kampagne auf das Klinkenputzen, auf die Teilnahme an Benefizveranstaltungen und auf das Händeschütteln auf dem Markt. Großveranstaltungen wie früher gibt es in diesen Wochen vor den beiden Urnengängen am 25.Mai und 1.Juni nicht. Flugblätter auch nicht, und selbst Wahlplakate haben Seltenheitswert. Die Parteiführer aus Paris kommen gar nicht erst nach Brest. Was hätten sie der Stadt mit dem störend gewordenen Rüstungsarsenal auch schon zu bieten?

Die Brestois haben nichts anderes erwartet. „Die Mauer ist gefallen“, sagen sie achselzuckend, „wir werden nie wieder so viele Schiffe produzieren wie früher.“ Sie wissen genau, daß kein Franzose ernsthaft protestieren würde, wenn die 20 Milliarden Franc (ca. 6 Milliarden Mark) im Militärhaushalt, die im vergangenen Jahr gestrichen worden sind, beispielsweise der Erziehung zufließen würden.

Auch Alain Kerdevel, Gewerkschafter im Arsenal und gelernter Tischler im Militärschiffbau, ist dieser Ansicht. „Man muß realistisch sein“, sagt der 34jährige Abkömmling einer Dynastie von Arsenalarbeitern, dessen Kinder als erste Generation keinen Platz im Arsenal mehr finden werden. Statt sehnsüchtig in die Vergangenheit zu gucken, gehe es jetzt darum zu diversifizieren. Neue Aufträge zu suchen. Und endlich auch ernsthaft über Arbeitszeitverkürzung nachzudenken.

Noch vor wenigen Jahren waren derlei Überlegungen im Arsenal ketzerisch. Die Rüstungsproduktion galt als Garantie der nationalen Souveränität. Sie hatte Priorität. Kosten spielten keine Rolle. Das Arsenal von Brest war eine geschlossene Veranstaltung, zu der kein Außenstehender Zutritt hatte. An eine Diversifizierung der Produktion im Arsenal war überhaupt nicht zu denken. Die Konkurrenz mit Betrieben aus dem zivilen Bereich war sogar ausdrücklich durch einen Vertrag aus dem vergangenen Jahrhundert ausgeschlossen. Wenn andere Industriezweige Interesse an einer Niederlassung an dem Standort Brest zeigten, empfanden das die Militärs als störend.

Im militärisch-industriellen Komplex war alles von Paris festgelegt und aufgeteilt: In Brest wurden die großen Schiffe gebaut, im benachbarten bretonischen Lorient die mittleren, und im Mittelmeerhafen Toulon wurden sie repariert. Erst jetzt, da es keine neuen Aufträge mehr gibt, versuchen die Politiker der drei Städte, sich gegenseitig die Arbeit streitig zu machen.

Der Flugzeugträger „Charles de Gaulle“ und das Transportschiff „Siroco“ sind die beiden letzten Schiffsneubauten in Brest. Noch schauen die Brestois dem Fortgang der Arbeiten in den Trockendocks zu. Wenn sie im nächsten Jahr vom Stapel gelaufen sind, wird dort Stillstand sein. Im Auftragsbuch vom Arsenal klafft anschließend eine tiefe Lücke. Erst im Jahr 2000 will die Marine zwei neue Transportschiffe des Modells Siroco bauen lassen.

Die Arsenalarbeiter halten das für Augenwischerei. „Nach zwei Jahren Stillstand, wenn es keine Facharbeiter mehr im Arsenal gibt, kann man hier keine Schiffe mehr bauen“, erklärt Alain Kerdevel.

Der bisherige Abgeordnete für Brest, ein Mitglied der RPR, der Partei des Staatspräsidenten, hat das Handtuch geworfen. Er kandidiert nicht wieder, nachdem seine eigene Mehrheit ihm mit der Militärreform in den Rücken gefallen ist. An seiner Stelle konkurrieren jetzt zwei Konservative gegeneinander, obwohl ihre Parteizentralen in Paris gemeinsam Wahlkampf machen. „Das ist Demokratie“, sagen sie zu dem Durcheinander.

Insgesamt 14 Kandidaten – darunter ein offizieller Kommunist und ein Exkommunist, ein offizieller und ein Exsozialist, die üblichen zerstrittenen Umweltschützer und natürlich ein Rechtsextremer von der Front National, die in der Bretagne traditionell schwach ist – streiten um das Mandat, das nur einer haben kann.

Fast alle wollen sich für neue Aufträge – zivile und militärische – für das Arsenal einsetzen. Bloß hat keiner eine Ahnung, woher die kommen sollen. Vorsichtshalber gilt der Status der direkt dem Verteidigungsministerium unterstellten „Direction des constructions navales“ (DCN) allen großen Parteien – Kommunisten eingeschlossen – als heilig.

Die DCN mit ihren Docks, Werkstätten und Büros, mit ihren 14 Kilometer Kai und ihrem eigenen internen Bussystem ist in Brest, was anderswo sämtliche Gewerbegebiete zusammen sind. Sie ist die einzige bedeutende Industrie einer Stadt mit 150.000-Einwohnern, von denen 40.000 in der Rüstungsbranche tätig sind. Sie ist auch das eigentliche Zentrum der Macht.

Wenn nötig, macht die DCN das Gesetz. Wegen des „Verteidigungsgeheimnisses“ hat niemand Einblick in ihre Bücher. Die Höhe der Steuern – auch der kommunalen – wird direkt vom Verteidigungsministerium festgelegt. Im Jahr 1995 flossen so 5,7 Millionen Franc (knapp 2 Millionen Mark) weniger in die Stadtkassen als im Vorjahr. Die Tendenz hält an. Sollte die DCN eines Tages ihren Sonderstatus als staatliche Industrie verlieren, was zwar niemand auszusprechen wagt, aber gemäß der Privatisierungspolitik der Pariser Regierung nur logisch wäre, ist Brest tot.

Seit Richelieu im 17. Jahrhundert den strategischen Wert von Brest entdeckte, lebt die Stadt im Rhythmus der Marine. Aus der frühen Zeit ist Brest die Festungsanlage geblieben. Das zweite beeindruckende alte Gebäude haben die Nazis gebaut. Ihr U-Boot-Bunker mit meterdicken Betondecken überstand alle 165 alliierten Bombardements und dient der französischen Marine immer noch als Garage für konventionelle U-Boote. Die Wohnhäuser der Stadt lagen bei Kriegsende in Trümmern. Die Neubauten aus den 50er Jahren haben heute den Grauton des U-Boot-Bunkers.

Die DCN, wo die Arbeiter Beamtenstatus haben und wo die hohen Löhne alle drei Monate automatisch an das Pariser Niveau nach oben angepaßt werden, liegt auch dem Kandidaten der RPR, Jacques Berthelot, am Herzen. Trotz der Unruhe, die der Umstrukturierungsplan seines Präsidenten vor Ort ausgelöst hat, ist der Lehrer an einer Marineschule in Brest optimistisch. Er will private Partner für Investitionen in Brest suchen, gemischte Unternehmen sollen neue Technologien im Finistère produzieren, und vor allem setzt er auf mehr Flexibilität der Beschäftigten. Auch wenn er dieses in Frankreich als „angelsächsisch“ verpönte Wort nicht benutzt. Immerhin spricht der Neogaullist von „Wettbewerb“, von „Produktivität“ und von dem „Risiko eines Streiks“ – im Arsenal sind auch das Tabubrüche.

„Dies ist das Ende der Welt“, sagen die Brestois beim Sonntagsspaziergang am Yachthafen Moulin Blanc, „hier kommt keiner hin. Kein Politiker aus Paris und keine Industriellen. Warum sollten die in Finistère investieren wollen? Unsere Kinder werden abwandern müssen.“

Für die Älteren gibt es nicht einmal diese vage Perspektive. Denn wer einmal im Arsenal gearbeitet hat, und wenn er noch so hoch qualifiziert ist, kann nichts anderes, als Kriegsschiffe bauen. Seine Diplome sind rein militärische Qualifikationen und auf eine Lebensstellung im Arsenal angelegt. Wer nicht in den vorgezogenen Ruhestand gehen oder „freiwillig ausscheiden“ will, dem bleibt bloß der Wechsel in die Marine. Dort werden wegen der Abschaffung des Militärdienstes jede Menge Hilfsjobs frei. Sie sollen den Rüstungsarbeitern angeboten werden.

Bei der „militärischen Bestimmung“ von Brest wird es in jedem Fall bleiben. Zwei Drittel der Arbeit im Arsenal sind schließlich vorläufig nicht gefährdet – sie bestehen in der Wartung der konventionellen französischen Flotte und in der der atombetriebenen U-Boot-Flotte. Die Force de Frappe wird Brests Weiterleben vorerst garantieren.

Darüber hinaus sorgt ein Monstrum mit der Aufschrift „SEDCO 707“ für neue Hoffnung in der Stadt am Ende der Welt. Die Offshore-Plattform wird gegenwärtig im Arsenal renoviert. 400.000 Arbeitsstunden für vier Monate. „Wenn wir davon sechs im Jahr hätten, wären wir aus den Problemen heraus“, sagen sie im Finistère.