■ Shell-Studie: Die Jugend entfernt sich von der offiziellen Politiker-Politik und entwickelt zugleich neues Engagement
: Eine zweite Politisierung?

„Wer soll Bundeskanzler werden“, fragten die Meinungsforscher von Emnid kürzlich die 14- bis 18jährigen. Auf ihren Favoriten wird man nicht kommen: der Spitzenreiter heißt „Keiner“. 28 Prozent der Kids setzten ihn an die Spitze. Auch der Hamburger Freizeitforscher Opatschowski wollte politisches Interesse testen und fragte, wer die „Tagesschau“ sieht. 72 Prozent der Jugendlichen verneinten, „nee, Politik interessiert uns nicht“.

Nach dem Grummeln von Emnid und Opatschowski folgte diese Woche das Gewitter. Die Shell-Jugendstudie ist ein Donnerschlag, der die trübe Republik aufschreckt und sie vielleicht doch mal dazu bringt, aus dem Fenster zu blicken. Noch viel wichtiger an diesem Gewitter sind die Blitze, die die Landschaft erhellen und zeigen, daß alles etwas anders ist, als man denkt.

Eine Hauptergebnis der Studie heißt: Die Krise hat die Jugend erreicht. Vor allem befürchtete Arbeitslosigkeit verdüstert den Horizont. Daß die Jugendlichen wahrnehmen, was auf sie zukommt, wertet die Studie als Realismus. Die lange Zeit für Jugendliche typische Aufspaltung, in No-future- Manier der Welt den Untergang zu prophezeien und zugleich auf die Frage nach persönlichen Aussichten himmlische Idyllen zu entwerfen – diese jugendtypische Gefühlsschere schließt sich. Insofern also weniger Illusionen und der Anfang einer diesseitigeren Politisierung.

Die These „Die Krise hat die Jugend erreicht“ heißt auch, daß die traditionelle Jugendphase scharfer Erosion ausgesetzt ist. Dabei ist ja zu bedenken, daß „Jugend“ (nicht jung sein) eine Erfindung der bürgerlichen Gesellschaft ist. Jugend war zuerst ein Vorrecht der Bourgeoisie und hat nach und nach alle Schichten erreicht, zum Schluß sogar die älteren Jahrgänge. Kurz: der bizarre Jugendkult ist für tatsächliche Jugendliche immer weniger verlockend. Jugendliche setzen nicht darauf, daß die Welt jung wird, sie wollen erwachsen werden, denn Erwachsensein setzen sie mit Unabhängigkeit gleich. So wichtig ihnen Freunde und Gruppen sind – abgesehen von der Sorge um die Bedingung aller Möglichkeiten, die Arbeit, sind ihnen Freunde am allerwichtigsten –, so deutlich wird doch auch, daß der große säkulare Prozeß der Individualisierung gleichzeitig mit der Krise die Jugend vollends erreicht hat. Jeder muß sein Leben selbst erfinden. Wie Anthony Giddens sagt: „Man hat keine Wahl, außer zu wählen. Man hat nicht die Freiheit, sich nicht zu entscheiden.“ Es steht eine Renaissance der Individuen an. Das war übrigens auch die Hauptthese einer anderen, in diesem Jahr erschienenen Jugendstudie, der des Züricher Soziologen Gerhard Schmidtchen. Er beobachtet einen „Aufstand der Person“.

Das Versprechen einer eigenständigen Jugendkultur, das in den 80er Jahren als „Postadoleszenz“ erwartungsvoll diskutiert wurde, verliert somit an Attraktivität. Ebenso ist die Aufladung von „Jugend“ zum historischen Ersatzsubjekt fast verschwunden. Auch bei der Vielzahl von Jugendstilen wird kaum noch eindeutige Zugehörigkeit bei einer Subkultur gesucht. Eher werden Stile poetisch und pragmatisch für ein individuell arrangiertes Gemisch genutzt. Aber das fundamentalistische Versprechen von Gruppen mit Alleinvertretungs- und absolutem Seligmachungsanspruch lauert. Sowenig die in der Shell-Studie vorgestellte Jugend also eine ist, die sich als historisches Alternativprojekt sieht, sowenig macht sie sich darüber Illusionen, welch historischen Einschnitt ihre Generation wird gestalten müssen: Das Ende der Arbeitsgesellschaft, das Ende der industriellen Moderne steht an.

Das zweite Hauptergebnis faßt der Architekt der Studie, Arthur Fischer, so zusammen: „Von Politikverdrossenheit kann gar keine Rede sein.“ Fischer räumt ein, daß „kurioserweise auch Jugendliche glauben, daß die Jugend politikverdrossen sei“. Aber Tatsache ist, die Jugendlichen lehnen ab, was ihnen die „Tagesschau“ als Politik vorführt: die ermüdende alltägliche Show von Politikdarstellern widert sie an, Politikverdrossenheit also. „Sie unterstellen der Politik, daß sie jugendverdrossen sei.“

Was nun die Politisierung der von ihm befragten Jugendlichen betrifft, meint Arthur Fischer, sie seien bei weitem politisierter, als es die 68er, damals und heute, waren. Aber diese neue Politisierung zu fassen macht große Schwierigkeiten, weil man sie eigentlich nur in 1.000 verzweigten Geschichten erzählen kann. Es gehört mit zu ihrer Natur, sich gegen weit gespannte Theorien zu sträuben.

Wenn schon Theorie, dann allerdings bestätigt die in der Studie vorgestellte Jugend Satz für Satz jenen Übergang, den die Soziologen Ulrich Beck und Giddens analysiert haben: den Umbruch von einer ersten zu einer zweiten Moderne. Damit geht ein Übergang von Großorganisationen auch in der Politik zu einem feingliedrigen Engagement einher, bei dem ein anderer Begriff von Politik ansteht und offenbar bei den Jugendlichen bereits entsteht, eine erfindungsreiche, gewissermaßen kapillare Politik der eigenen Lebensführung. Wichtiger als Ideologien werden Personen. Aber dieser Vorgang ist noch in seiner Verpuppungsphase. Welche Schmetterlinge ausschlüpfen, ist unklar. Aber da bereitet sich was vor.

Was machen die Jugendlichen? Sie arbeiten in Projektwerkstätten mit oder machen sich ganz einfach Gedanken. Sie engagieren sich häufig für den Tierschutz. Auch in den biographischen Porträts der Studie tauchen immer wieder Tiere auf. Die Jugendlichen wollen Leben in den Stadtteil bringen. Sie wollen sich exponieren. Indessen ist „politisch sein“ im Sinne der Politiker-Politik ein Schimpfwort geworden wie „Streber“ oder „korrupt“, es wird zur Signatur für Weltverbraucher und Endverbraucher, jener letzten Menschen, die nichts mehr anfangen wollen.

Engagement soll Jugendlichen Spaß machen. Spaß bedeutet ihnen nicht selbstbezogenes Vergnügen, sondern die Freude am Erleben der eigenen Wirksamkeit. Wirksamkeit, darum geht es. Ihre Erregung für die Welt wächst. Engagement wird nicht so sehr in der Relation von Zwecken und Mitteln gesehen, also nach dem Muster „Heute etwas für später tun“, sondern als Anfang von vielen kleinen Veränderungen. Und was Politik ist, das kann man bei Hannah Arendt lernen: Es ist die menschliche Fähigkeit, etwas Neues anzufangen. Denn der Anfang ist, so Hannah Arendt, das Wunder menschlichen Handelns. Übrigens, 1966 erschien auch eine Jugendstudie, deren Tenor hieß: „Große Politikverdrossenheit vor allem bei Studenten.“ Reinhard Kahl