Vater, wo warst Du im 2. Weltkrieg?

■ Die Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“, die das Institut für Sozialforschung auf Kampnagel eröffnete, ist inzwischen weitergereist, doch die Debatte über sie geht weiter – und ist ebenso spannend wie die Ausstellung selbst / Ein Interview mit dem Projektleiter Hannes Heer

taz: Hannes Heer, die Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“, die unter deiner Leitung vom Hamburger Institut für Sozialforschung ausgerichtet wurde und noch wird, hat ein großes Presse-echo ausgelöst. Seid ihr von dieser Resonanz überrascht worden?

Hannes Heer: Absolut. Wir waren völlig überrascht. Um das einfach mal zu sagen: Jede Zeitung in der Bundesrepublik bis in die fernste Provinz hat mittlerweile darüber berichtet. Jede große europäische Zeitung hat darüber geschrieben, die englischen Blätter, die französischen, die polnischen, holländischen, wohin man sieht. Hinzu kommen Fernsehstationen, australische Zeitungen, kanadische. Allein von der Quantität her ist das für uns immer noch nicht richtig faßbar.

Wie läßt sich diese Resonanz beschreiben? Geht sie von der Aussage her in einheitliche Richtungen?

Auch das ist vollkommen überraschend. Wenn man sich die Reaktionen mal anguckt, und läßt man dabei die rechtsradikalen Blätter weg, dann gibt es nur eine Zeitung, die einen klaren Standpunkt gegen die Ausstellung vertreten hat, und das ist die Welt. Aber auch die hat sozusagen drei Anläufe gebraucht, bis sie an dem Punkt war, unser Projekt zu verdammen. Es gab noch vor Eröffnung der Ausstellung einen Artikel über unsere Pressekonferenz, der war absolut positiv. Dann erschien ein zweiter Artikel, von Jost Nolte, der war konservativ, aber seriös. Und erst mit dem dritten Artikel, mit dem von Rüdiger Proske, war die Welt an dem Punkt, die Ausstellung sei einseitig und überhaupt ein Skandal. Die Welt ist bisher die einzige Zeitung, und wenn man die audiovisuellen Medien hinzunimmt, das einzige Medium, das einen solchen Standpunkt vertreten hat. Das ist schon absolut sensationell.

Läßt sich diese Einmütigkeit des Urteils in den Zeitungen, die ja mit den vielen Anfeindungen kollidiert, denen die Ausstellung vor allem von der Seite ehemaliger Wehrmachtsangehöriger ausgesetzt ist, erklären? Habt ihr offene Türen eingerannt?

„Niemand hat mehr mit den alten Geschichten gerechnet“

Natürlich sind in der Wissenschaft schon viele Ergebnisse unserer Ausstellung vorbereitet gewesen, das haben wir nie geleugnet. In Sachen Kriegsgefangene zum Beispiel haben wir wenig Neues hinzugefügt, höchstens den lokalen Alltag ausleuchten können und auch die extremen Spitzen der Behandlung, wie sie die deutsche Wehrmacht etwa ihren sowjetischen Kriegsgefangenen angedeihen ließ. Wir setzen also, was die Wissenschaft angeht, eine bestimmte Debatte fort, wie sie vor allem vom Militärgeschichtlichen Forschungs-amt geleistet wurde.

Das erklärt nicht die Reaktionen.

Stimmt. Was die Öffentlichkeit betrifft, kann man zweierlei sagen: Zum einen hat keiner mehr damit gerechnet, daß jemand noch mal an die Geschichten geht, die sich die Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg geleistet hat. Die sind einfach kalt erwischt worden, die Medien. Die FAZ zum Beispiel hat drei Versuche gemacht, mit der Ausstellung klarzukommen. Zuerst schickte sie einen jungen Menschen, der hat auch was geschrieben, aber es kam nicht im Blatt. Dann schickte sie einen zweiten Journalisten, von dem kam auch nichts. Und dann haben sie schließlich einen Externen beauftragt, den Wette vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, der sonst nur für die Zeit schreibt, und der hat dann die Ausstellung beschrieben. Das heißt, sie sind von der Dimension der Aussage wirklich überrascht worden, mußten aber reagieren.

Das ist das eine. Das zweite ist: Die Ausstellung ist, denke ich doch zumindest, so gebaut, daß man es wirklich schwer hat, ihr irgendwelche ideologischen Tendenzen nachzuweisen. Die Ausstellung hat sozusagen keine Henkel, an der man sie in irgendeine Ecke packen könnte.

Ihr habt euch nicht auf die Kontinuität der militärischen Eliten von der Nazizeit bis in die Bundeswehr bezogen. Auch habt ihr nicht über die Entstehung des Zweiten Weltkriegs geforscht. Ihr habt euch allein auf die Verbrechen der Wehrmacht in einem bestimmten Gebiet zu einer bestimmten Zeit bezogen. Warum?

Das war eine ganz bewußte Entscheidung. Obwohl es auch innerhalb des Teams ganz starke Voten gab, mal zu zeigen, wie diese Wehrmachts-Generäle dann in die Bundeswehr gekommen sind. Aber da haben wir gesagt, dazu sind wir nicht in der Lage. Es hat sich also eine gewisse handwerkliche Bescheidenheit durchgesetzt. Und wir haben uns gesagt, daß alles, was wir dort zeigen könnten, auf Kosten unserer Kernaussage gehen würde, also auf die Verbrechen der Wehrmacht.

Das ist der zweite Punkt, der diesen Schock erklärt, den man bei vielen Ausstellungsbesuchern fühlen kann, den man auch bei den Journalisten fühlen konnte, als sie sie zum erstenmal sahen: Sie mußten beschreiben, was sie gesehen hatten, sie konnten gar nicht lange versuchen, die Ausstellung ideologisch einzuordnen und damit zu relativieren, etwa nach dem Motto: Was ist das für eine Fraktion, wo kommen die her? Null. Das war und ist nicht möglich.

Ist dieser Versuch der Relativierung eurer Aussagen nicht im Gange, wenn man sich etwa den Artikel von Rüdiger Proske ansieht oder auch die Reaktionen Erich Mendes bei der „Talk im Turm“-Sendung, die ihr vor einigen Wochen hattet?

Ein gewisser Versuch zum Rollback ist sicher zu beobachten. Es gibt ja viele Statements, die Wehrmacht habe tapfer gekämpft und so, aber das Phantastische ist doch, daß die erste Welle sozusagen so durchgegangen ist, und es wird schwer sein, den Eindruck wieder wegzukriegen. Du kannst das öffentliche Interesse nicht mehr runterbringen. Unsere Ausstellung ist bis Mitte 1997 ausgebucht. Als nächstes wandert sie nach Stuttgart, dann kommt Wien, Innsbruck, Freiburg, Mönchengladbach, Essen und so weiter. In jeder Stadt, in der sie auftaucht, flammen die Diskussionen neu auf. Das kriegst du nicht mehr runter. Ich bekomme tagtäglich 10 bis 15 Briefe in der Art: Mein Vater ist da und dort bei der und der Einheit gewesen, können Sie mir sagen, woran er genau beteiligt war? Irgend jemand hat in unser Gästebuch auf Kampnagel reingeschrieben: „Vater, wo warst du?“ Da tut sich wirklich ein enormes Interesse auf.

„Für die Alten ist es das letzte Gefecht . . .“

Damit wären wir bei der weitergehenden Wirkung der Ausstellung. Kannst du erklären, warum die Verbrechen der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg immer noch so brisant sind, immerhin nach jetzt über 50 Jahren?

Also, bei den Alten, die uns Verunglimpfung der Wehrmacht vorwerfen, ist das klar: Das ist das letzte Gefecht, nachdem sie ihr ganzes Leben in der Lüge eingerichtet haben. Wobei es eine Lüge ist, an der die ganze Gesellschaft beteiligt war. Das war nichts Individuelles. Die gesamte Gesellschaft, alle wollten es, daß da eine Formation existiert, die sauber ist, der man noch deutsche Tugenden zusprechen kann. Diese Lüge bricht jetzt weg, und zwar in einem Alter, in dem man sich eigentlich der idyllischen Kindheit zuwenden will. Daß das furchtbar ist, ist völlig klar. Denen ist natürlich nicht zu helfen. Du kannst nur Verständnis bekunden, mehr nicht.

„. . . und den Jungen fehlt der Ansprechpartner“

Und die jüngeren Besucher sind mit Erzählungen der Großväter aufgewachsen – für heutige Jugendliche sind es ja nicht mehr wie bei mir die Väter, die im Zweiten Weltkrieg mitgemacht haben, sondern die Großväter –, von denen sie schon immer gewußt haben, daß sie gelogen sind, oder bei denen zumindest wichtige Sachen fehlen. Der Opa hat dann zwar erzählt, wie hart das war und wie kalt und die Läuse und so, aber man merkt doch, das kann nicht alles gewesen sein. Unsere Ergebnisse gehen also voll in die Familien zurück, und zwar ohne daß es jetzt noch möglich wäre, einen Generationenkampf zu führen, weil die Eltern oder Großeltern nicht mehr da sind, oder sie sind zu alt, und man denkt, das bringt nichts mehr.

Ich denke, da kommt die Intensität her, mit der die Besucher an unsere Ausstellung herangehen. Also, wenn ich 1968, in die Ausstellung gerannt wäre, ich hätte mir ein paar Tafeln angeguckt und gedacht, jetzt weiß ich alles. So war man damals. Heute bohren sich die Leute rein in die Texte und die Schautafeln und lesen und lesen – sie wissen, sie müssen das jetzt allein mit sich ausmachen. Es gibt keinen Ansprechpartner, keinen Dialog mehr. Und Kampf erst recht keinen.

Ich möchte noch einmal auf die „Talk im Turm“-Sendung zu sprechen kommen. Vor allem Rüdiger Proske ist dich heftig angegangen.

Proske ist für mich ein Rätsel. Er ist ja ein Pionier der deutschen Fernsehgeschichte. In den frühen 60er Jahren hat er die Sendung Panorama mit aus der Taufe gehoben, und die war für den Demokratisierungsprozeß und den Zivilisierungsprozeß der deutschen Gesellschaft wirklich enorm wichtig. Ich hatte von ihm immer das Bild eines innovativen und kritischen Journalisten, und dann kommt die Welt mit seinem gelinde gesagt äußerst merkwürdigen Artikel an. Er scheint es sich zur Altersaufgabe gemacht zu haben, irgend etwas bei mir enttarnen zu wollen.

Bei der Sendung ging er sehr persönlich vor.

Auch nach der Sendung noch. Da sprang er wie ein Rumpelstilzchen vor mir rum und sagte: „Cui bono? Cui bono? Wofür machen Sie das? Was steckt dahinter? Wenn Sie es nicht sagen, ich kriege es raus.“ Es ist wie eine Obsession. Na ja, die von der Sendung wollten einen Selbstdarsteller, das gehört mit zum Konzept, und den haben sie auch gekriegt.

Gegen die Ausstellung wird argumentiert, sie verunglimpfe pauschal die einzelnen deutschen Soldaten.

Es gibt keinen einzigen Satz, in dem ich das getan hätte. Es wird auch keinen geben, denn es ist einfach nicht festzustellen, daß alle Angehörigen der Wehrmacht oder soundsoviel Prozent von ihnen verbrecherisch gehandelt hätten. Das geht wissenschaftlich gar nicht. Es ist allerdings festzustellen, daß die Wehrmacht selber, spätestens seit 1941 und zumindest für den Bereich, den wir ausgeleuchtet haben, eine durch und durch verbrecherische Organisation war. Sie war dazu disponiert, Verbrechen ungeheuerlichen Ausmaßes anzustiften, zu begehen, zu rechtfertigen, zu verwischen. Was aber den einzelnen Soldaten betrifft, so war es reiner Zufall, wer wohin kam und was da für Sachen angestellt wurden. Es hat vom sogenannten anständigen militärischen Kampf Schützengraben gegen Schützengraben bis zu den schlimmsten Greueltaten im Zweiten Weltkrieg alles gegeben. Wer wo dabei war, das war reiner Zufall.

In der öffentlichen Diskussion wird trotzdem oft versucht, den Ball in dieses Feld zu spielen.

Wir können trotzdem keine Aussagen darüber machen, wer sich warum an den Verbrechen der Wehrmacht beteiligt hat. Es gibt keine Untersuchungen, dies etwa von den soziologischen Schichtungen her zu durchleuchten oder von den Jahrgängen. Es gibt keine Mentalitätsgeschichte der Wehrmacht. Das Ganze muß überhaupt erst mal in Gang kommen.

„Es gibt noch keine Mentalitätsgeschichte der Wehrmacht“

Wie beurteilst du die Chancen, daß sie in Gang kommt?

Sie wird es. Denn als Defizit ist das einfach zu deutlich, das zeigt doch die Debatte jetzt auch. Daß sie teilweise unseriös ist, liegt nicht nur daran, daß die Teilnehmer unseriös sind. Es liegt auch daran, daß sich da wirklich ein dunkles, gähnendes Loch auftut. Aber man merkt den Geschichtsstudenten, die die Ausstellung besuchen, schon an, wie sie die Ohren spitzen. Da wird es einen richtigen Schub geben. Das Furchtbare ist allerdings, daß man von den Zeitzeugen kaum noch etwas herausbekommt. Dabei sind sie unverzichtbar dafür, an die Wirklichkeit des Kriegsalltags heranzukommen.

Fragen: Dirk Knipphals

Heute um 20 Uhr diskutiert Hannes Heer im Weißen Saal des Curio-Hauses, Rothenbaumchaussee 13, mit Bernd C. Heßlein, Wolfgang Kraushaar, Eckardt Opitz, Ulrich Vosgerau und Bernd Wegner über das Thema: „Altlast Wehrmacht – Die Bundeswehr und ihre Traditionen“.