„Tabubruch, der nicht aufs Sparen zielt“

■ Marktwirtschaft statt Planwirtschaft: Hamburgs Drogenhilfe soll umstrukturiert werden / Streitgespräch zwischen Horst Bossong (Drogenbeauftragter des Senats), Kai Wiese (Jugend hilft Jugend), Dieter Adamski (Therapiehilfe) und Gert M. Petersen (Drogenhilfe Eimsbüttel) Moderiert von Sannah Koch

taz: Herr Bossong, ab 1996 wollen Sie Qualitätssicherung in der Hamburger Drogensozialarbeit einführen. Sie werfen den Sozialarbeitern lyrisch verklärte Dateninterpretationen, kundenunfreundliche Arbeitszeiten und geistigen Bummelstreik vor.

Horst Bossong: Mein Vortrag hat sich mit der Drogensozialarbeit der gesamten Bundesrepublik befaßt und die zentralen Defizite benannt: unpräzise Beschreibung der Aufgaben und Leistungen, unzureichende Transparenz, mangelhafte Vernetzung und ein Finanzierungssystem, das das Ungenügende genauso bezuschußt wie das Hochenagierte.

Ihre Kritik war hart, und die Gegenkritik der Träger war es auch. Die haben erklärt, der Drogenbeauftragte habe sich mit seiner unerträglichen Kritik disqualifiziert.

Kai Wiese: Der wirkliche Konflikt ist doch, ob man diejenigen, die die Arbeit umsetzen, ernst nimmt oder sie im Vorweg schmäht. Die Verantwortung für das, was in den letzten Jahren passiert ist, tragen nicht nur die Sozialarbeiter, sondern auch die Politik.

Bossong: Von Schmähungen kann überhaupt keine Rede sein. Der Vorwurf träfe nur zu, wenn meine Kritik vollkommen aus der Luft gegriffen wäre. Aber ich bin überzeugt, daß es in Hamburg noch erhebliche Defizite gibt.

Die Träger sagen, sie praktizierten bereits Qualitätssicherung.

Dieter Adamski: Es gibt laut Aussagen des Drogenbeauftragten hier ein hochqualifiziertes Drogenhilfesystem. Wie kann man das mit Mitarbeitern betreiben, die sich seit Jahren im geistigen Bummelstreik befinden? Herr Bossong muß sich entscheiden, ob er mit diesen Menschen arbeiten will oder sie niedermacht.

Bossong: Aber es gibt Defizite, und es ist viel mehr an Modernität möglich. Was den Bummelstreik angeht, so habe ich gesagt, wir finanzieren mit dem tradierten System das Kompetente genauso wie den Bummelstreik.

Mal konkret: Der Drogenbeauftragte fordert kundenfreundlichere Arbeitszeiten auch an Wochenenden und abends.

Wiese: Die Forderung ist richtig, aber nicht neu. Wenn er die Kritik so generell vorträgt, demotiviert er alle, die das seit Jahren machen.

Bossong: Eigentlich müßte dieses Thema ein Ding kollegialer Kritik sein, nach dem Motto „Liebe Kollegen, habt ihr nicht mehr alle Tassen im Schrank, durch eure Öffnungszeiten blickt ja kein Mensch mehr durch“. Die Verwaltung muß erst eingreifen, wenn es nicht von den Trägern selber kommt.

Zweiter Punkt: die vom Drogenbeauftragten geforderte Vernetzung durch Computer, in denen Service-Angebote und freie Therapieplätze sein sollen.

Wiese: Alles sinnvoll, aber wir wollen weder den gläseren Patienten noch den gläsernen Mitarbeiter.

Gert M. Petersen: In meinem Projekt haben wir von Anfang an auf EDV gesetzt, mit der wir die Profile der Einrichtungen in der Bundesrepublik nach dem Bedarf des Klienten abfragen können.

Adamski: Wir sind nicht technikfeindlich, aber bis vor zwei Jahren haben wir von der Behörde noch verboten bekommen, Computer zu kaufen. Es ist doch die Frage, ob die Behörde das, was sie von uns eingelöst haben will, auch bezahlt. Diesen Modernisierungschub gingen wir gerne gemeinsam.

Bossong: Meine Kritik bezog sich auf das gesamte System, also auch auf die Verwaltung. Das ist derzeit Lichtjahre von dem entfernt, was möglich wäre.

Stichwort System: Herr Bossong, bei Ihnen heißt das künftig Marktwirtschaft statt Planwirtschaft. Ein provokativer Tabubruch oder ein verkleidetes Sparprogramm?

Bossong: Ein Tabubruch, der nicht aufs Sparen zielt, sondern darauf, Sozialarbeit als Berufsstand unabhängiger von der Politik zu machen. Wir wollen die Rechtsposition des Bedürftigen stärken. Die Sozialarbeit soll dann deren Nachfrage bedienen, davon kann sie leben.

Adamski: Diese These ist doch eine Illusion. Sozialarbeit ist Teil eines sozialpolitischen Systems, der sich nicht herauslösen läßt. Der Frage nach finanzieller Ausstattung werden wir nicht dadurch entgehen, daß wir besser arbeiten.

Bossong: Bestes Beispiel dafür ist der Pflegebereich: Da haben sich gewerbliche Träger etabliert. Soll man auch in der Drogenhilfe abwarten, bis freischaffende Sozialarbeiter ihr das Feld streitig machen? Deswegen will ich eine konkrete Definition der Leistungen, diese mit Preisen versehen und Qualitätssicherung, die garantiert, daß nicht derjenige am meisten verdient, der den schnellsten Durchlauf hat. Nebenbei bemerkt: In St. Georg haben wir ein Riesendrogenproblem und ein Hilfesystem, da wäre was zu tun.

Wiese: Das ist genau ein Beispiel, wo Marktwirtschaft nicht funktioniert. Danach wäre doch jeder mit dem Klammerbeutel gepudert, der sich um St. Georg kümmert.

Bossong: Aber das machen Sie doch heute auch nicht.

Wiese: Dort kann Marktwirtschaft gar nicht funktionieren, denn dann würde sich wieder nicht um die Ärmsten gekümmert, sondern nur um die Pflegeleichten. Unter Qualitätsaspekten müßte man hier strukturpolitische Elemente fördern. Hier müssen die Träger kooperieren und dabei auch unterstützt und nicht von den Verwaltern gerüffelt werden, daß sie sich gefälligst um andere Dinge zu kümmern hätten.

Die Träger müßten die Einzelfallabrechnung doch begrüßen, weil sie auch wissen, daß es mit den Steuergeldern nicht ewig so weitergeht.

Adamski: Nicht alle Träger bekommen ihre Arbeit aus Steuergeldern finanziert. Aber es gibt Projekte, die Grundversorgung absichern, das sind Bereiche, die nicht in die Leistungssysteme anderer Kostenträger passen. Jemand soll mir mal vorrechnen, wie man die Grundversorgung am Hauptbahnhof soweit operationalisieren kann, daß sie in einzelne Preise paßt.

Wie könnte es funktionieren?

Adamski: Die Leistungen müssen weiter vergütet werden wie bisher. Dann müssen wir gemeinsam festlegen, welche Segmente einzeln abrechenbar sind. Man kann nicht erst für alles Preise bestimmen, und der Rest wird nicht bezahlt.

Bossong: Wir wollen doch Schritt um Schritt differenzieren und nicht von heute auf morgen alles umstoßen. Wir verhandeln doch, damit wir das in einem konsensualen Verfahren hinbekommen.

Wiese: Trotzdem wird man für bestimmte Segmente leichter Preise abmachen können als für andere. Und da kann es passieren, daß die Felder vernachlässigt werden, die nicht so präzise in Preise aufzuschlüsseln sind.

Aber nach diesem System müßte sich jeder auf die Bahnhofsszene stürzen, weil die den größten Stundenaufwand garantiert.

Wiese: Aber es ist doch nicht nur die Staatsknete umkämpft; andere Kostenträger sitzen auch nicht auf goldenen Eiern. Unser Interesse ist eine Grundstruktur, bei der nicht danach geschielt werden muß, ob der richtige Klient zum richtigen Preis herausgegriffen wird.

Bossong: Ein Angebot: Wir können aushandeln, daß eine Beratungsstunde in einem Projekt schlechter bezahlt wird als aufsuchende Sozialarbeit in Brennpunkten.

Wiese: Und damit kippen wir dann wieder die Öffnungszeiten.

Bossong: Die regeln sich von selbst, weil jede Einrichtung möglichst viele Klienten erreichen will.

Petersen: Marktwirtschaft ist für uns kein Problem. Ich warne aber vor einer Entwicklung, bei der die pflegeleichten Patienten ohne Ende therapiert werden und der Randbereich hängenbleibt.

Und das Angebot, schwierigere Arbeiten höher zu bezahlen?

Wiese: Wir müssen von der Chimäre wegkommen, daß nur in St. Georg eine Szene existiert. Für mich ist entscheidend, daß die Finanzierung so angelegt ist, daß man sich bewegen kann, und daß das „Sich-in-die-Szene-begeben“ bezahlt wird.

Bossong: Aber in St. Georg brennt es lichterloh. Da muß die Drogenhilfe als Feuerwehr hin.

Adamski: Aber da ist doch der Widerspruch: Die Feuerwehr ist eine öffentliche, voll subventionierte Einrichtung.

Das ist die Drogenhilfe in St. Georg derzeit auch.

Adamski: Wenn man auf der einen Seite die Feuerwehr fordert und auf der anderen Seite sagt, es wird nur gezahlt, was gelöscht wird, funktioniert das nicht. Einerseits sollen wir Markt machen, andererseits für alle Bedarfslagen bereit sein.

Petersen: In St. Georg wird deutlich, daß die Drogenhilfe Dinge leisten soll, die nicht ihre originäre Aufgabe sind – da spielen Obdachlosigkeit und Verelendung mit rein. Wer soll das denn bezahlen?

Bossong: Gegenwärtig haben wir keine Marktwirtschaft, sondern Planwirtschaft, und die Feuerwehr ist trotzdem nur sehr begrenzt dort.

Was hat für Sie auf dem Weg zur Modernisierung Priorität?

Petersen: Wir würden gerne mehr harte Zahlen haben, um überprüfen zu können, ob wir gute oder schlechte Arbeit abliefern. Der Gedanke, gute Arbeit besser zu bezahlen als schlechte, trifft bei uns auf ein positives Echo.

Adamski: Grundsätzlich muß mit den Trägern Planungssicherheit hergestellt werden. Wir müssen verbindliche Absprachen darüber treffen, was wir leisten können, was wir leisten müssen und wie das finanziert wird. Das alles in einem vernünftigen Zeitraster – nicht bis Anfang '96, sondern in den nächsten drei bis vier Jahren.

Wiese: Es darf sich bei der jetzigen Armutsentwicklung nicht an Sparkonzepten warmgeredet werden. Für mich ist eine hohe Autonomie in der Finanzverwaltung für die Träger wichtig. Eine dynamischere Entwicklung muß dabei auf dem Grund von Arbeitssicherheit stehen, die Arbeit darf nicht jedes halbe Jahr wieder zur Disposition stehen.

Bossong: Sicherheit gibt es angesichts der gegenwärtigen Spardiskussion im alten System am wenigsten. Wir müssen den Konsens zur Modernisierung zügig voranbringen, dafür haben wir nicht mehrere Jahre Zeit. Die Umsetzung werden wir mit einer Erprobung beginnen. Ab 1996 werden wir ein neues System haben, und ich bin überzeugt, daß es besser funktionieren wird.