Wider das Vergessen

■ Lateinamerikanische Filmtage im 3001-Kino / Klassiker, aktuelle Produktionen und ein Seminar schaffen Durchblick

„Das System offen und direkt bekämpfen!“ So lautete die Parole von Fernando Solanas, dem argentinischen Altmeister und Mitberünder des Dritten Kinos, das sich in den 60er Jahren als Gegenentwurf zum europäischen Autorenfilm und zur leichten Kost aus Hollywood entwickelte. Bei den Kino-Jubelfeiern werden die Beiträge Lateinamerikas jedoch in der Regel ausgespart, als würden die Schornsteine der Traumfabriken nur in der westlichen Hemisphäre rauchen.

Um so erfreulicher, daß das 3001-Kino dem vergessenen Kontinent eine Hommage widmet und bis zum 12. Juli 30 Dokumentar- und Spielfilme präsentiert. Die Auswahl reicht von den bildgewaltigen Klassikern der 50er Jahre bis zu aktuellen Produktionen; ihr gemeinsamer Nenner ist das Engagement für den sozialen und politischen Wandel. Der chilenische Spielfilm Amnesia (Foto) von Gonzalo Justiniano eröffnet die umfangreiche Reihe, um – gleichsam als Motto für das Fest – gegen das Vergessen zu rebellieren.

Erzählt wird die Begegnung zweier Soldaten, die sich noch einmal der „guten, alten Zeit“ des Faschismus versichern. Damals haben sie, fernab in der Wüste, ein Gefangenenlager bewacht – Ramirez als einfacher Soldat, Zuniga als vorgesetzter Sergeant. Doch die Verbrüderung trügt, Rückblenden enthüllen Zunigas grausamen Despotismus, der die Gefangenen in den Tod und Ramirez in den Wahnsinn trieb. Dichter und bizarrer noch als Roman Polanskis Ariel-Dorfmann-Adaption Der Tod und das Mädchen rechnet Amnesia mit der trickreichen Strategie des Gedächtnisschwunds ab, die Zuniga eine weiße Weste und ruhige Nächte beschert. Am Ende werden Ramirez und ein Überlebender des Lagers sich rächen – und das Verfahren aussetzen.

Den Finger auf brennende Wunden zu legen hat Tradition in der lateinamerikanischen Filmgeschichte. Schon die ersten Konzeptionen eines modernen, unabhängigen Kinos – wie das Cinema Novo in Brasilien oder das Kino des Volkes in Chile – waren politisch motiviert. Sie wurden von der Euphorie über die erfolgreiche Revolution in Kuba getragen, und von der Hoffnung, daß der Kontinent sich endlich aus den Klauen des Imperialismus befreie. Filme sollten ihre Solidarität mit den Hungernden und Unterdrückten erklären, sie sollten in allen Ausdrucksformen die Wirklickheit spielen und verschüttete Traditionen und Kulturen beleben. Auch von der Produktion bis zum Verleih wurden erstmals neue Wege beschritten, um den nationalen Filmmarkt gegenüber US-amerikanischen Branchenriesen (ein wenig) zu stärken.

Exemplarisch für diesen Zeitraum hat das Schanzenkino Glauber Rochas Spielfilm Gott und Teufel im Land der Sonne (1964) ausgewählt, der in metaphorischen, fast surrealen Bildern die Flucht eines Bauern beschreibt, der seinen Herrn getötet hat. In Kuba stichelte Tomás Gutierrez Aleas Der Tod eines Bürokraten (1966) gegen sattelfeste Funktionäre, in Argentinien setzte Fernando Solanas' agitatorische Dokumentation über die Gewalt als Befreiungsform politische und filmästhetische Maßstäbe: Die Stunde der Feuer (1968) avancierte – meist illegal von Basisgruppen aufgeführt – zum Manifest des lateinamerikanischen Kinos.

Die gegenwärtige Kinolandschaft ist nur schwer zu überschauen: Die Probleme des Kontinents sind trotz demokratischer Fortschritte noch immer ungelöst – doch die wirtschaftliche Dauerkrise erschwert eine kritische, lebendige Auseinandersetzung. Ein Seminar (23.-25. 6.) will eine Bestandsaufnahme des jungen Films wagen und nach Perspektiven suchen. Dazu wird die peruanische Regisseurin Maria Barea mit ihrem neuesten Spielfim Antuca (1993) erwartet. Silke Kirsch

Do, 15. Juni: Eröffnungsfilm „Amnesia“ mit anschließender Party