Hier regiert die Phantasielosigkeit

■ Profil Zahnlücke: Bremerhavener Theater serviert in der nächsten Spielzeit nur seichte Kost

Daß Intendanten bei Amtsantritt gern vollmundig eine neue Ära in dem von ihnen übernommenen Haus ankündigen, ist nichts besonderes. Klappern gehört auch im Theater zum Handwerk, und wer das nicht beherrscht, wird sich um den unruhigen Posten an einem mittelgroßen Stadttheater nicht reißen. Vor allem nicht an einem Theater wie in Bremerhaven, das seit je den Ruf hat, mehr für vordergründige Unterhaltung zu tun, als Schauspiel- oder gar Musiktheatergeschichte zu schreiben. Auch Peter Grisebach hatte mit seiner ersten Spielzeit 1994/95 dem Theater und dem Publikum mehr Profil versprochen und heftig gegen seichte Kommerz-Kultur („Fast Food“) gewettert. Mit kaum gespielten Opern wie „Die weiße Dame“oder „Raskolnikow“begann er das Repertoire zu erweitern, eine „Dramatiker-Werkstatt“polierte Stücke aus den 60er Jahren auf, und auch die Musicals sollten anders sein: Statt leichter Kost wurde mit Bernsteins „West Side Story“oder Cole Porters „Kiss me, Kate“seriöses Musiktheater geboten. Aber nach drei Jahren scheint Grisebach da angekommen zu sein, wo sein Vorgänger aufgehört hatte.

Kürzlich für vier weitere Jahre im Amt bestätigt, zieht er jetzt für die kommende Spielzeit einen Spielplan aus der Tasche, der mit allen Experimenten Schluß macht. Hunderprozentig sicheres Kulturgut steht auf der Speisekarte für 1997/98. Im Musiktheater wartet Grisebach als Regisseur mit zwei Opern auf, die er selber in den 80er Jahren schon inszeniert hatte: „Carmen“zum Auftakt, „Tosca“am Ende. Nichts neues also. Darüber hinaus bewährte Namen: Verdi („Falstaff“), Smetana („Zwei Witwen“). In der Operette Lehar („Das Land des Lächelns“). Als Senioren-Musical „My Fair Lady“, für Nostalgiker in Midlife-Crisis: „Hair“und für die Jüngsten, die am liebsten mit Wasserpistole und Klopapier-Rolle ins Theater gehen, zieht die stets ausverkaufte „Rocky Horror Show“ins zweite Jahr.

Um nicht als Griesgram zu gelten: Die Rocky-Horror-Show in Bremerhaven ist nicht nur perfekt gemacht, sie ist ein großer Spaß für alle Beteiligten. Aber ein Programm, das nichts anderes mehr bietet als die Aneinanderreihung sicherer Hits, hat schon verloren. So ein Theater droht, zum bloßen Getriebe zu werden und in purer Konventionalität zu ersticken.

Im Schauspiel, der traditionell mutigeren Sparte, sieht es nicht viel besser aus. Wo bisher Lorca, Tabori oder Werner Schwab zu sehen waren, ist im kommenden Programm nicht nur eine Inszenierung weniger zu sehen, sondern das hehre Pathos ausgebrochen. Zwei Säulenheilige des deutschen Theaters – Schiller („Maria Stuart“) und Brecht („Mutter Courage“) – sorgen für die richtige Moral, Alan Ayckbourn („Treppauf – Treppab“) für das launige Boulevard-Intermezzo, Sean O'Caseys „Juno und der Pfau“war schon vor einem Jahr angekündigt worden und wurde kurzfristig gestrichen. Das ist schon alles im Großen Haus – bis auf das Weihnachtsmärchen – und das ist sehr wenig. Im kleinen Haus sieht es nicht besser aus. Angeküdigt sind die Erfolgsstücke „Kunst“und „Butterbrot“– ein Beziehungskisten-Klassiker der 80er.

Daß der bisherige Oberspielleiter Holger Schultze gekündigt hat, daß relativ viele Mitglieder des Ensembles Bremerhaven zum Ende der Saison verlassen und daß die neue Oberspielleiterin Astrid Jacob nur als „kommissarische Spielleiterin“eingesetzt wurde, stimmt skeptisch. Steht das Schauspiel in Bremerhaven auf der Kippe? Wer programmatisch nichts mehr zu bieten hat, muß sich das zumindest fragen lassen. Am Stadttheater regiert in der kommenden Spielzeit die Phantasielosigkeit. Selbst das gegen alle Sparpläne heftig verteidigte Ballett, dem seit einem Jahr Sponsoren unter die Arme greifen, zieht sich auf Bewährtes zurück: Tschaikowskijs „Nußknacker“im September. Der einzige unbekannte Leckerbissen im gesamten Angebot wird erst im Mai 1998 serviert: Hans Werner Henzes Lyrisches Drama „Boulevard Solitude“.

Bremerhavens Theaterfreunde treffen sich also erst im Mai nächsten Jahres wieder. Bis dahin wird man auch wissen, ob die Kur aus allseits bekannten Sahnestücken dem Theater auf die Beine geholfen oder ob sie es endgültig in den Schlaf getrieben hat. Hans Happel