Mit beschränktem Radius

■ Die Reisen der Annette von Droste-Hülshoff: ein Marathon an beschaulichen Familienbesuchen. Fahrten in die Ferne kamen für die Westfälin nicht in Frage

„Ich sitze wie eine Maus im Loche in meinem Thurme“ – so beschrieb Annette von Droste-Hülshoff ihre Tage auf Burg Meersburg in einem Brief an ihre Freundin Elise Rüdiger vom 5. Januar 1844. Das scheint zum Bild einer seßhaften und vereinsamten Droste ebenso zu passen wie zu der Zeit, in der sie lebte, dem Biedermeier. Mobilität, Weltläufigkeit gar würden wir da kaum erwarten. Und in der Tat: Während ihre schreibenden Kolleginnen bereits durch halb Europa und sogar bis in den fernen Orient reisten, kam die Droste nicht einmal bis nach Italien. Wirklich von Reisefieber wurde sie nur selten gepackt, Reiseliteratur oder literarisch verwertbare Reisetagebücher hat sie nie geschrieben.

Und doch war die Droste insgesamt neun Jahre ihres Lebens unterwegs: Walter Gödden ist der Frage nachgegangen, welchen Stellenwert diese Reisen für Leben, Werk und Biographie der Dichterin gehabt haben. Ein Ergebnis: Wenn die Droste ihre Koffer packte, dann ging es nicht auf „Lust- oder Vergnügungsreisen“, sondern „ganz im Sinne der biedermeierlichen Konvention auf einen von ihrer Familie vorgeschriebenen Kurs“. Ein regelrechtes Marathon an Familienbesuchen war da zu absolvieren. Der Horizont blieb stets durch familiäre Bande begrenzt. Weiter reichten ihre Ambitionen kaum: „Ich bin eine Stockmünsterländerin und finde den münsterischen Mond bedeutend gelber als den Schweizer“, schrieb sie trotzig vor Antritt ihrer Reise nach Schloß Eppishausen im Sommer 1835.

Als sie einige Jahre zuvor tatsächlich einmal gemeinsam mit einer Freundin Richtung Innerschweiz wollte, äußerte ihre durch und durch konservative Mutter, „Nette kann ohne Vormund und ohne Geschäftsführer in der Welt gar nicht bestehen“, und sprach von den „beiden dusseligen Prinzessinnen“, deren „Plan nicht halb, sondern ganz verrückt“ sei.

Gleichwohl war das häufige Reisen generell eine Voraussetzung für ihre literarische Produktivität: Etwa die Hälfte ihres Werkes entstand während ihrer vielen auswärtigen Aufenthalte – ein Wechsel der Lebensumstände löste oft eine schöpferische Spannung aus, und wenn sie auf Reisen ging, hatte sie stets einen bis zum Rand mit Arbeitsmanuskripten gefüllten Koffer bei sich.

In Gestalt literarischer Reise- und Landschaftsbilder wurden Reisen aber auch zu einem Gegenstand ihrer Arbeit. Ihr Fragment gebliebener Roman „Bei uns zu Lande auf dem Lande“ wie ihre stille Mitarbeit an dem von Freund Levin Schücking bearbeiteten Bildband „Das malerische und romantische Westphalen“ zeigen, wie sehr sie dabei fixiert blieb auf eine sozialromantische, rückwärtsgerichtete Utopie, welche die patriarchalische, abgeschlossene Welt ihrer westfälischen Heimat mit ihrer provinziellen Enge und Beschaulichkeit geradezu verklärte.

Zeitgenössische Neuerungen der Verkehrstechnik wie Schnellpost, Dampfschiff und Eisenbahn hatten in diesem Weltbild keinen Platz. In deutlichem Kontrast zu dieser literarischen Orientierung freilich stand die alltägliche Reisepraxis der Droste, die sich die neuen Errungenschaften auf dem Gebiet des Verkehrs recht schnell zu erschließen wußte: die Droste als souveräne „Weltenbummlerin“ – wenn auch mit beschränktem Radius. Werner Trapp

Walter Gödden: „Sehnsucht in die Ferne. Annette von Droste-Hülshoffs Reisen durch die Biedermeierzeit“. Droste Verlag, Düsseldorf 1996, 309 Seiten, 39,80DM