Abschied von Altenwerder

Morgen wird das ehemalige Dorf unter Sand begraben. Vom Fischerdorf bleiben nur Kirche und Friedhof. Und Erinnerungen  ■ Von Heike Haarhoff

ie Techno-Bässe dröhnen kilometerweit über die gerodete und gepflügte Elbinsel. Monoton wie die Autobahn, nur lauter. Und ungewohnter: 50 Jugendliche tanzen quer über das letzte Fleckchen Grün von Altenwerder, gleich hinter der Kirche. Es ist Pfingsten, und es ist heiß.

Bierdosenclips knacken, Glückspillen wechseln den Besitzer. Wann zuletzt hat es in Altenwerder ein so ausgelassenes Fest gegeben? Was überhaupt gibt es zu feiern? Die Hafenerweiterung? Den Abschied von Altenwerder? „Quatsch“, brüllt der DJ und kratzt weiter mit den Fingernägeln über zwei Vinyl-Scheiben. „Wir machen unsere Parties überall, aber ich hab' mal am Moorburger Hauptdeich gewohnt, deswegen kenn' ich die Gegend.“

Als 1973 Hamburger Senat und Bürgerschaft die „Räumung zum Zwecke der Hafenerweiterung“beschlossen, waren der DJ und viele seiner Kumpel noch nicht geboren. Die Zerstörung des Fischerdorfes in einer bundesweit beispiellosen Abrißaktion und die Absiedlung von 2.000 Einwohnern kennen sie bestenfalls aus Erzählungen. Während des dann folgenden 20jährigen Planungsstillstands verwuchs Altenwerder zum Biotop. Nach dem Dorf wird nun auch das Biotop dem Hafen geopfert. Aja, und?

„Spacig“finden die Techno-Freaks die Mondlandschaft aus Baumstümpfen, aufgewühlter Erde und Gräben. Seit September letzten Jahres wüten städtische Bagger in der einstigen Idylle aus hochstehenden Wiesen und verwilderten Obstgärten. Damals gab das Oberverwaltungsgericht dem Hafenausbau grünes Licht. In dieser Woche nun soll Altenwerder mit einer drei Meter hohen Sandschicht bedeckt werden – „aufspülen“heißt das im Fachjargon. Mehr als zwei Millionen Kubikmeter Sand aus der Elbe werden allein 1997 aufgebracht, um das Gelände zu erhöhen und damit sturmflutsicher zu machen. Eine weitere, vier Meter dicke, körnigere Schicht folgt später.

Auf dieser Plattform sollen bis 2001 Containerterminals, Hafenbecken, Kaimauern, Dienstleistungs- und Güterverkehrszentrum gebaut werden – auf daß der Hafen zu einem riesigen Logistischen Zentrum werde. Mehr als eine Milliarde Mark ist der finanzschwachen Stadt das Projekt wert; bezahlt werden soll es mit den Einnahmen aus dem Verkauf von Grundstücken südlich der Speicherstadt. Dort soll dereinst die neue Hafen-City entstehen. Von 700 Jahren Fischerdorf Altenwerder bleiben dann nur noch Kirche und Friedhof übrig.

Die Frau wirft eilig ein paar Blumen aufs Grab. Nein, sie wird nicht so schnell wiederkommen, sagt sie. Der Weg nach Altenwerder ist weit. Wäre da nicht das elterliche Grab – sie würde gern mit Altenwerder abschließen. Nur wie?

Anfang der 70er Jahre, „als das mit den Hausaufkäufen losging“, hat auch sie dem städtischen Druck nachgegeben und die Elbinsel verlassen: „Meine Eltern haben diese Schikanen glücklicherweise nicht mehr erlebt.“Sie jedoch quälen Zweifel, „ob man alles richtig gemacht hat“. Was, wenn man nicht verkauft hätte? So wie Werner Boelke: 25 Jahre hat der letzte Grundeigentümer gekämpft. Was, wenn man ihn in seinem Kampf nicht allein gelassen hätte?

Der private Sicherheitsdienst arbeitet rund um die Uhr – auch an Pfingsten. „Das ist doch Kapital, das hier rumsteht.“Hinter dem hohen Zaun warten ein Dutzend Bagger und rostrote Rohre auf ihren Einsatz. „Am Mittwoch geht es richtig los“, grinst der Wachmann. „Pearl River, mit 144 Länge einer der größten Laderaumsaugbagger, den der Hafen gesehen hat“, prahlt die Wirtschaftsbehörde, wird dann zweimal täglich 12.000 Kubikmeter Sand – 800 Lkw-Ladungen – anliefern.

Ein Ehepaar hockt im Auto hinterm Hauptdeich. Wortlos starren sie über die öde Fläche. „Schweinerei“, sagt er schließlich leise. Seine Familie ist „auch mal weggesiedelt worden, 1957, wegen dem Gaswerk in Kattwyk“. Er weiß, „wie das ist, wenn plötzlich dein Dorf vor deiner Nase verschwindet“.

Der Mann ist Hafenarbeiter. Zwischen 1985 und 1995 hat sich der Containerumschlag in Hamburg auf 2,9 Millionen Standardcontainer verdoppelt. Ein Spitzenergebnis im europäischen Wettbewerb. „Trotzdem wird das Terminal keinen einzigen der 5.000 neuen Arbeitsplätze schaffen, die der Wirtschaftssenator uns verspricht.“

Technologie allein nämlich bringt's nicht. Wenn schon Containerterminal, so predigte jahrelang der Hafenexperte der TU Harburg, Helmut Deecke, dann kostengünstiger und flächensparender auf bereits erschlossenem Hafengebiet im Dradenau- und Petroleumhafen. Niemand hat auf ihn gehört.

Eine Frau fährt durch die Schlammebene. Immer wieder hält sie an. Versucht zu rekonstruieren, wo früher welcher Baum gestanden haben muß. Späht nach dem Punkt, wo sie den Hund begraben haben. Der Deich, ihr Lieblings-Spazierweg – einfach weg. Plötzlich packt sie die Wut: Nie wird sie sich alles merken können. Wahllos reißt sie Triebe von den letzten Fliederbäumen ab. Irgend etwas von Altenwerder will, muß sie mitnehmen.

Erst als sie fertig und die Hand von der Baumrinde grün-braun verfärbt ist, fällt ihr ein, daß sie ja gar keinen Garten für den Flieder hat.