Tugendkönig mit Schwindel im Kopf

■ Entdeckung: Benjamin Brittens selten gespielte Oper „Albert Herring“in Bremerhaven

Eine überlebensgroße Königin Victoria beherrscht die Bühne. Verglichen mit diesem Denkmal wirkt alles andere klein und beschaulich: Puppenhaft niedlich sind die kniehohen Häuserfassaden – ein Legoland aus Pappe. Die Honoratioren des englischen Miniaturstädtchens – der Polizeichef, der Bürgermeister, der Pfarrer – schieben beim ersten Auftritt ihre Häusle selbst in Position. Bühnenbildner Christopher Hewitt hat für Benjamin Brittens komische Oper „Albert Herring“am Satdttheater Bremerhaven ein reizvoll verzerrendes Bild entworfen. Wir sind im victorianischen England um 1900. Hier regieren Anstand und Sitte, und eine reiche herrische Lady wacht eisern über die Tugendhaftigkeit der Bewohner.

Vor genau 50 Jahren hat Britten mit seinem Kammerspiel für 13 Instrumentalisten und 13 SängerInnen eine Satire gegen alle kleinbürgerliche Wohlanständigkeit und damit zugleich ein Loblied auf die Befreiung angestimmt. Seine Hoffnung richtet er allein auf die Kinder und Jugendlichen, die in anderer Weise unverdorben sind als es sich die erwachsenen Tugendwächter wünschen. Albert Herring ist der unschuldige Knabe, der von den Honoratioren – mangels geeigneter weiblicher Kandidaten - zum Mai-, das heißt zum Tugendkönig gekrönt werden soll.

Er ist ein braver Sohn seiner Mum, an Mädchen wagt er kaum zu denken. Aber am Vortag seiner Krönung setzen ihn die Freunde Sid und Nancy unter hochprozentigen Alkohol, und der Schwindel im Kopf macht ihn mutig. „Der Himmel hilft dir, wenn du dir selbst hilfst“, sagt er sich und holt in einer Nacht alles nach, was ihm bisher an „Trunkenheit, Schmutz und Sünde“verborgen und verboten war. Als er am Morgen zurückkehrt, befreit sich von den mütterlichen Fesseln und weist die ganze Honoratioren-Clique aus dem Laden. Die Tür bleibt lediglich den Freunden und Kindern geöffnet.

Britten zitiert und parodiert vor allem in den Ensemble-Nummern lustvoll-verspielt klassische Opernformen, aber er färbt seinen satirischen Stoff mit einem lyrisch-melancholischen Grundton ein, der hörbar macht, daß es ihm nicht nur um eine leichte Sommerkomödie ging. „Albert Herring“ist im Kern eine jugendliche Emanzipationsgeschichte, ein Kampf gegen gesellschafltiche und mütterliche Bevormundung, ein befreiender Griff zu den verbotenen Früchten der Jugend.

Regisseur Wolfgang Lachnitt betont den satirischen Spaß, er choreographiert den Auftritt der köstlich kostümierten strengen Damen und Herren mit viel Liebe zum Detail. Dagegen setzt er – ohne zu überzeichnen – die jungenhafte Naivität des unbedarften Albert, dem Uwe Eikötter gesanglich und spielerisch überzeugende Konturen gibt. Sehnsüchtig beobachtet er das Pärchen Sid (Andrew Dalley) und Nancy (Anja Burkhardt), die Lachnitt auf Fahrrad und Rollschuhen über die Bühne gleiten läßt.

Die musikalischen Qualitäten dieser viel zu selten gespielten Oper holt Dirigent Leo Plettner mit einem exzellent eingestimmten Kammerorchester souverän hervor: Fein nuanciert, sehr transparent und mit geschmeidiger Dynamik wird hier aufgespielt. „Albert Herring“ist in jeder Hinsicht ein Höhepunkt dieser Bremerhavener Opernsaison. Dazu tragen freilich auch die SängerInnen bei – neben den schon genannten herausragend: Brigitte Jäger als tyrannische Lady Billows und Kathryn Dineen als ihre zackig-zickige Haushälterin Florence.

Unverständlich nur, wieso Brittens schönes Zwischenspiel als musikalische Klammer zwischen zwei Akten, als Bündelung der parodistischen wie melancholischen Töne, gestrichen wurde. Lachnitt nimmt den Schmerz, den dunklen Raum jenseits der Komödie, offenbar nicht so ernst, wie es der Komponist nahelegt. Hans Happel

Aufführungen am 21. und 29. Mai sowie am 7., 13. und 27. Juni