„Europa hat keinen Platz für sie“

Um nicht nach Bosnien zurückkehren zu müssen, versuchen immer mehr Flüchtlinge von Berlin aus in die Vereinigten Staaten auszuwandern. Vor allem qut qualifizierte Menschen verlassen Europa. In zwei Monaten 400 Anträge  ■ Von Thekla Dannenberg

Was Slavenka Domacinovic verzweifeln läßt, hat sie auf deutsch gelernt, um in einem Satz sagen zu können, wie gekränkt sie ist: „Mein Land will mich nicht mehr.“ Die vierzigjährige Kroatin aus der bosnischen Stadt Bugojno ist vor vier Jahren mit ihrem muslimischen Mann und ihren drei Kindern nach Berlin geflüchtet. Nun hat sie ihr Schwager davor gewarnt, nach Bugojno zurückzukehren. Als Kroatin würde sie in der bosnisch-muslimischen Stadt weder Arbeit noch Wohnung finden. Binationale Paare wie Slavenka Domacinovic und ihr Mann Nadzid können in keinem der ethnisch separierten Teile heimisch werden.

Weil sie auch in Berlin nicht bleiben dürfen, haben sie beschlossen, in die USA auszuwandern. Sie haben das Glück gehabt, aufgenommen zu werden. Aber freuen können sie sich nicht. „Vor allem mein Mann hat sich schwergetan“, sagt Slavenka Domacinovic, „er hat seine ganze Familie in Bosnien.“ Ihr Bruder lebt schon in Connecticut im Osten der Vereinigten Staaten, dorthin wird die Familie ihm folgen. Was sie dort erwartet, wissen sie nicht. Als Buchhalterin wird es der Kroatin, die kein Wort Englisch spricht, schwerfallen, Arbeit zu finden. Mehr Hoffnung kann ihr Mann haben, er ist Mechaniker.

Seit dem 1. Mai müssen auch Familien mit Kindern nach Bosnien zurückkehren. So wird selbst traumatisierten Flüchtlingen oder binationalen Familien eine Rückkehr in das nationalistische Bosnien zugemutet. Für das Ehepaar Domacinovic wäre dies undenkbar.

Nun wartet die fünfköpfige Familie im Verein für Internationale Jugendarbeit, um ihre Einreisebestätigung zu erhalten – und Europa hinter sich zu lassen. Mit ihr hoffen mehrere hundert andere bosnische Flüchtlinge und ihre Familien aus Berlin, in den USA Aufnahme zu finden. Allein bei diesem Verein, der für das Diakonische Werk die Weiterwanderung vermittelt, haben in den vergangenen zwei Monaten ungefähr 400 Flüchtlinge solche Anträge gestellt. Bei seinem katholischen Pendant, dem Raphaelswerk der Caritas, sind es noch einmal genausoviel.

Allein die USA werden in diesem Jahr 7.000 bosnische Flüchtlinge dauerhaft aufnehmen, denen sie – anders als deren europäische Aufnahmeländer – eine Rückkehr nach Bosnien nicht zumuten wollen: traumatisierten Frauen und Männern sowie binationalen Ehepaaren. Ein prompter humanitärer Akt, zu dem sich die Bundesrepublik nicht durchringen konnte.

Doch die USA nehmen wie die ebenso wirtschaftlich boomenden Länder Kanada und Australien auch eine zweite Gruppe von BosnierInnen auf, nämlich diejenigen, deren Angehörige bereits dort leben und für sie bürgen können. Dieses Tor nutzen vor allem junge Akademiker, die der geistige Klimawechsel im ehemals kosmopolitischen Bosnien von einer Rückkehr abhält. Einen solchen Brain- Drain aus Europa in die klassischen Einwanderungsländer hat es zuletzt nach dem Zweiten Weltkrieg gegeben. Insgesamt rechnen die USA damit, in diesem Jahr 18.000 Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien aufzunehmen.

Neben den beiden kirchlichen Stellen beraten allein in Berlin rund zwanzig Agenturen Flüchtlinge, die in die begehrten Einwanderungsländer wollen. Kommerzielle Agenturen verlangen bis zu fünftausend Mark allein für die Beratung, andere beraten kostenlos. Beide jedoch können meist nur Hoffnungen wecken. So wie Ernad Causevic, der bereits vor sieben Jahren Bosnien verließ und nun für eine kanadische Agentur seine früheren Landsleute berät.

Mit seiner goldenen Armbanduhr und seinen wohleinstudierten Erfolgsgebärden erscheint er wie der lebende Beweis seines eigenen Mottos: „God gives to everybody“. Pro Woche berät er fast 200 Flüchtlinge. „Es ist nicht reine Humanität, weswegen Kanada die Leute haben will. Kanada weiß, daß es billiger ist, gut qualifizierten Menschen ein Visum zu geben, als die Leute selbst auszubilden.“

Bosilijka Schedlich vom Kulturverein „SüdOst Europa“ hält die Weiterwanderung so vieler Flüchtlinge schlichtweg für eine „Tragödie“: Das ist nicht nur ein Verlust für Bosnien, sondern für Europa insgesamt“, bedauert Schedlich. In den Räumen des Vereins bedecken Stellenausschreibungen aus Bosnien für Ärzte und Professoren ganze Wandtafeln. Doch Anreiz genug können sie für AkademikerInnen nicht sein, die die neu entstandene geistige Enge in Bosnien scheuen.

„Das Schlimmste aber ist, daß Europa es nicht schafft, diese Menschen zu halten. Sie gehen mit dem Gefühl, daß Europa keinen Platz für sie hat, meint Schedlich, deren Verein diesen Verlust schon selbst erleben mußte: Als dem Ausstellungsleiter, einem Serben, die Abschiebung in das kroatisch-bosnische Mostar drohte, wanderte er Hals über Kopf in die USA aus.