"Wir haben alles verlangt ..."

■ Mario Moretti, Gründungskader der italienischen Roten Brigaden, liefert eine präzise Aufarbeitung linker Geschichte

Aus Sicht der 1977 aktiven Mitglieder der RAF liegt auch zwanzig Jahre nach dem Deutschen Herbst keine Darstellung oder gar Aufarbeitung jener Ereignisse rund um die Entführung von Hanns Martin Schleyer vor. Dieses Feld wird bislang der Gegenseite überlassen.

Welches Niveau eine solche Aufarbeitung haben könnte und müßte, veranschaulicht ein Versuch aus Italien, die Geschichte der Stadtguerillaorganisation Brigate Rosse (BR) nachzuzeichnen, der nun auf deutsch vorliegt. Die undogmatische Theoretikerin und Politikerin Rossana Rossanda und die Journalistin Carla Mosca diskutierten sechs Tage lang im Knast mit einem der „Anführer“ der BR, Mario Moretti. Dieser, Gründungsmitglied und unter anderem verantwortlich und verurteilt für die Entführung und Ermordung des Parteichefs der Christdemokraten, Aldo Moro, 1978, sitzt seit 1981 im Knast. Seit einigen Monaten ist er Freigänger.

Das Buch besteht zum einem aus dem üblichen Beantworten von Fragen und interessiertem Nachfragen, aber zum anderen entsteht an vielen Stellen ein lebendiges Streitgespräch, denn auch Rossana Rossanda und Carla Mosca sind Subjekte jener Jahre. Zudem ist das Buch vom Übersetzer mit sehr informativen Anmerkungen zu fast allen Begriffen, Personen und Ereignissen versehen.

Den Tiefgang des Gesprächs macht vor allem aus, daß Moretti weder die eigene Verantwortlichkeit für die BR und ihre Taten leugnet noch um „die Höhe der Niederlage“ herumredet: „Wir haben alles verlangt, und es ist richtig, daß wir für alles bezahlen“ (Seite 268). „Über das Wie, sogar über den bewaffneten Kampf, muß man noch mal nachdenken und vielleicht alles revidieren. Aber das kann man nur tun, wenn man die Verantwortung für alles übernimmt“ (aus dem Vorwort, Seite 16). Ihm geht es um eine eigene, vom Gegner unabhängige Reflexion der Geschichte, immer bemüht, einen antagonistischen Standpunkt gegenüber Staat und Kapitalismus zu behalten.

R.R. & C.M.: „Daß die Pentiti (Reuigen, Kronzeugen) sagen, ,wir haben alles falsch gemacht‘, akzeptierst du nicht?“

M.M.: „Hätten sie das nur gesagt. Sie haben gesagt, daß die andere Seite, der Staat, das Kapital, recht hatten. Keine Niederlage kann eine derartige Selbsterniedrigung rechtfertigen. Das verleugnet nicht nur den Sinn unseres Kampfes, sondern den der gesamten Bewegung eines Jahrzehnts. Inhalte, Erfahrungen, Ziele, Werte – alles in Anbetung des Staates annulliert. Ein Gedächtnisverlust, der mehr Desaster verursachte als der bewaffnete Kampf. Jene Geschichte gehörte den Leuten zurückgegeben, den lebenden sozialen Subjekten, die sie vielleicht verschlungen und in Stücke zerrissen hätten. Das wäre für uns nicht gemütlich gewesen. Aber sie gehört nicht der anderen Seite geschenkt“ (Seite 272f.).

In den sechs langen Gesprächen erschließt sich weitgehend chronologisch die Geschichte der BR und Mario Morettis Lebensweg: wie er als junger Ingenieur nach Mailand in die großen Fabriken wie SIT- Siemens, Pirelli und Alfa Romeo kommt und dort arbeitet; wie sich im Gefolge von 1968 die Klassenkämpfe zu ungeahnter Radikalität entwickeln, er in eine Kommune zieht, mit seiner damaligen Lebensgefährtin ein Kind macht, mit seinen Arbeitskollegen erste klandestine Aktionen durchführt (die Autos von Vorarbeitern und Personalchefs anzündet) und wie aus diesen Kämpfen im Laufe der Zeit die BR entstehen.

Die BR sind in den 70er Jahren in den Fabriken verankert. Viele der ArbeiterInnen wissen, wer dabei ist, gehen aber nicht zur Polizei. Dies interpretieren die BR allerdings fälschlicherweise als inhaltliche Zustimmung.

Es folgen die ersten Entführungen von Managern, die aber meist nach wenigen Stunden oder Tagen vor den Werkstoren, möglichst bei Schichtwechsel, wieder freigelassen werden. Doch bald kommt es zu den ersten Toten auf beiden Seiten. Die Großfabriken als zentraler Ort der Auseinandersetzung werden immer bedeutungsloser. Der Staat und seine Repressionsorgane werden zum Hauptgegner – „ins Herz des Staates treffen“ wird neue Strategie. Parallel entsteht die Bewegung von 77, die der Autonomia, der StadtindianerInnen, die den Stadtteil und den Alltag ins Zentrum der Kämpfe rücken. Doch auch diese Bewegung zerbricht an ihren eigenen Widersprüchen und an der Repression. Infolge dieser Niederlage strömen Hunderte von Militanten zu den BR, die nun ihrem operativen Höhepunkt zusteuern: erst die Moro-Entführung, die ausführlich beschrieben und diskutiert wird, dann 1980 bis zu vier Entführungen gleichzeitig. Mit der Entführung von d'Urso (einem hohen Richter) gelingt es, „richtig Politik zu machen“ und die Schließung einiger Spezialgefängnisse durchzusetzen. Im nachhinein die erfolgreichste Aktion der BR – meint Moretti, „ein Meisterwerk der Guerilla“.

Doch dies ist zugleich der „Schwanengesang der BR“. Sie spalten sich ab 1980 in die „traditionelle“ Mailänder Kolonne „Walter Alasia“, in die BR-PCC („Kämpfende Kommunistische Partei“) und die BR-PG („Guerilla-Partei“). Moretti wird 1981 verhaftet und ordnet sich keiner der drei Hauptströmungen zu. 1987 stellen die Reste der BR den bewaffneten Kampf ein.

Daß es die ganze Zeit über auch Alternativen zu den BR wie andere bewaffnete Gruppen („Prima Linea“, die ganze „Guerilla diffusa“, etc.) gibt, erwähnt er zwar, doch geht er zuwenig auf deren inhaltliche Kritik ein. Dasselbe gilt für Rossana Rossandas Kritik an der Eskalationspolitik der BR („Die BR schießt auf die Bewegung“). Trotzdem ist einem seiner Resümees wenig entgegenzusetzen (S.22): „Was denn anderes tun? Was an anderem ist denn gemacht worden, was nicht gescheitert wäre? Welcher Praxis, der der kommunistischen Partei, der der breiten Linken, der der neuen Linken, ist es denn gelungen, das Desaster der 80er Jahre zu verhindern?“ Benjamin Kaminski

Rossana Rossanda, Carla Mosca: „Mario Moretti: Brigate Rosse – Eine italienische Geschichte“. Aus dem Italienischen von Dario Azzellini. Verlag Libertäre Assoziation Hamburg und Verlag der Buchläden Schwarze Risse Berlin und Rote Straße Göttingen

ISBN 3-922611-58-3, 29 DM