■ Ansprache von George L. Mosse zum Ausstellungsbeginn „Goodbye to Berlin? 100 Jahre Schwulenbewegung“
: Das gläserne Dach

Es ist für uns Ältere oft schwer zu verstehen, wie schnell sich die Zeiten geändert haben. Was wir in unserer Jugend für unmöglich hielten, ist jetzt, jedenfalls in einem Teil unserer Welt, beinahe Wirklichkeit geworden: Homosexualität ist nicht länger etwas, was keinen Namen hat. Jetzt hat sie sogar ein Gesicht und ist, wie in dieser Ausstellung, menschlich, greifbar geworden. Und all das in wenigen Jahren. Wenn man bedenkt, daß Homosexualität das Symbol für eine pervertierte Sexualität war – und die Rolle, die die Sexualität als das Fundament der Respektabilität spielt, berücksichtigt –, so ist der Fortschritt fast schwindelerregend. Vielerorts ist die Emanzipation Homosexueller heute sogar gesetzlich verankert.

Trotzdem sind wir noch lange nicht am Ende angelangt. Die rechtliche Gleichstellung zu erlangen wäre schon sehr viel. Aber reicht das aus? Die Ausstellung dokumentiert die Macht des Bildes, das sich unsere Gesellschaft von Außenseitern macht. Es existiert etwas, was in der amerikanischen Frauenbewegung das gläserne Dach genannt wird, an das man stößt und nicht weiterkommt.

Dieses gläserne Dach ist das Bild des Schwulen, das in den Hirnen so vieler Menschen lebt. Eines, das die Emanzipation in ihre Schranken weist. Dieses Bild wiederum ist ein Stereotyp, das tiefe Wurzeln in unserer Geschichte und Gesellschaft geschlagen hat. Hier wird der Schwule zum Gegenbild der Männlichkeit, der Respektabilität schlechthin stilisiert. Er wird zum Symbol der Dekadenz. Das, was als abnormal angesehen wird, bekommt zugleich etwas Krankhaftes, Hysterisches – man sehe mal die Bilder der Gays in der Boulevardpresse – und wird in die Terminologie von Gesundheit und Krankheit eingebettet. All das wissen wir. Wir müssen unsere eigene und die Geschichte der Gesellschaft erkennen, um zu begreifen, wie es zu diesem gläsernen Dach kam und wie man es – dem schwer mit Gesetzen allein beizukommen ist – überwindet.

Der Homosexuelle ist ein Teil der Gemeinschaft der Außenseiter – Landstreicher, Bettler, Juden, Zigeuner. Es sind diejenigen, von denen man sagt, daß sie anscheinend keine respektable Geschichte besitzen. Doch wie tief ist solches Außenseitertum in unsere Gesellschaft eingebettet? Oder, um es besser zu formulieren: Wie sehr ist eine Gesellschaft bereit, Außenseiter zu tolerieren?

Ich weiß nur zu gut, wie pessimistisch dies klingt. Aber die Beschäftigung mit der Geschichte hat mich gelehrt, daß die Funktion der Respektabilität als Kitt unserer Gesellschaft, wo es an anderen Zementierungen der Zusammengehörigkeit mangelt, nicht in der absehbaren Zukunft ausgeräumt werden kann. Ich weiß auch, daß Konformismus nicht nur der Todfeind der Außenseiter ist, sondern auch des denkenden Menschen überhaupt. Aber auch hier müssen wir nicht immer im Unbedingten verhaftet sein. Das gläserne Dach kann nicht zerstört, sondern muß aufgeweicht werden. Aber um das möglich zu machen, muß man die verschüttete Geschichte der Homosexualität ausgraben.

Bis jetzt waren wir anscheinend von der Geschichte ausgeschlossen. Von ihren gemeinsamen Mythen und Helden, von der Geschichte des Christentums oder von der Deutschlands. Ihre Triumphe, ihre Niederlagen, Wiedergeburten fanden ohne uns statt. Aber für unsere Gesellschaft, den Staat ist die Geschichte schlechthin sinngebend. Wir feiern ihre Siege, wir trauern über ihre Niederlagen in der Vergangenheit. Immer versucht man die Vergangenheit ins Gedächtnis zu rufen. Für andere Außenseiter wie die Juden war das Bewußtsein ihrer langen Geschichte der Verfolgungen und Katastrophen geradezu ein Mittel zum Überleben.

Und die, die keine eigene Geschichte haben oder besser zu haben glaubten, was machen die? Ich muß wohl kaum nochmals erwähnen, wie epochal die Ausgrabung der Geschichte der Schwulen und Lesben ist. Natürlich gehört jeder Mensch vielen Gemeinschaften an, jede mit ihrer eigenen Geschichte, jede ein Teil des Ganzen. Aber die Geschichte, die hier in dieser Ausstellung vorgestellt wird, ist doch nicht nur für das Selbstbewußtsein und die Würde der Homosexuellen entscheidend. Sie entmythologisiert das Bild, das sich unsere Gesellschaft nur zu oft von der Homosexualität macht. Denn letztlich gehört die Geschichte der Homosexuellen zur Geschichte der Gesellschaft, der Nation als Ganzes. Sie bereichert sie um eine neue Dimension – und hilft ihr dabei, der Wirklichkeit ihrer Geschichte näher zu kommen.

Man braucht nicht mehr nach einer respektablen Vergangenheit zu suchen, die man kooptieren kann – so wie bei den alten Griechen. Man kann sogar, wie Oscar Wilde, auf eine solche Stütze verzichten und einfach stolz sein, daß man eben anders ist: gestärkt durch das Wissen, daß man mitten in seiner eigenen Geschichte steht und dadurch seinen Platz in der Gesellschaft überblicken kann.

Ich glaube, wir sind jetzt in dem Stadium der Emanzipation, wo wir uns mehr mit den Problemen, die uns entgegenstehen, beschäftigen müssen. Und zwar gründlich. Das heißt mit dem Bild des Homosexuellen in der Gesellschaft, dem Bild, nach dem sie sich richtet. Hier stoßen wir an die eigentliche Stütze des gläsernen Daches, das über die Emanzipation gehängt ist.

Es geht aber nicht nur darum, die Gesellschaft von ihrem Stereotyp über uns zu befreien, wir selbst müssen uns von unserem Stereotyp emanzipieren. Das Annehmen des eigenen Stereotyps ist der eigentliche Fluch des Außenseiters. Ich weiß noch, wie ich mich als Junge der Ostjuden im Scheunenviertel schämte, und noch viel später der sogenannten effeminierten Homosexuellen (Tunten, Anm. d. Red.). Es ist schwer, sich ganz den Vorurteilen der Gesellschaft zu entziehen, besonders, wenn sie die eigene Gruppe betreffen.

Wir sind hier, um eine Befreiungsbewegung zu feiern. Ich habe über Integration in die Gesellschaft als Gleichberechtigung gesprochen. Aber liegt darin nicht auch die Gefahr der Normalisierung? Ist es nicht gerade das Außenseitertum, das die Aufgabe hat, die träge und etablierte Gesellschaft wachzurütteln? Es ist doch kein Zufall, daß gerade die Sozialisten, die eine neue Welt heraufbeschwören wollten – allen voran August Bebel –, die Petition von Magnus Hirschfeld unterzeichneten. Man muß sich selbst immer ein Stück Außenseitertum bewahren, um nicht selbst träge zu werden. Natürlich müssen wir gegen Stereotype kämpfen. Dabei aber sollten wir uns den Stolz bewahren, freischwebende Intellektuelle zu sein.