Am Meeresufer der Geschichte

■ In Tanger Nonstop verfolgen die Kastrierten Philosophen die Wege der Beatdichter in Marokko

Ernst Bloch hat einmal festgestellt, daß es nicht einfach ist, die Magie der Plätze der Kindheit wieder zu spüren, wenn man Jahrzehnte danach zurückkehrt. Vielleicht ergibt sich eine ähnliche Schwierigkeit, wenn man jene Stätte aufsucht, an denen sich Leute aufgehalten haben, deren Werke so etwas wie eine Art geistige Heimat konturieren? Um es mit dieser Schwierigkeit aufzunehmen, braucht es jedenfalls die Bereitschaft, liebevoll und ausdauernd hinzusehen.

Die Filmemacher Jochen Kraus und Florian Schneider haben in Tanger Nonstop die vor allem aus Kathrin Achinger und Matthias Arfmann bestehende Hamburger Popgruppe Kastrierte Philosophen viele Monde liebevoll begleitet. Dabei ging es unter anderem nach Tanger in Marokko. Dort lebte der Erfinder der literarischen Methode des Cut-Up, Brion Gysin, ein geistiger Kumpel von William S. Burroughs und Verfasser des Romans The Process. The Process bildete die lyrische Grundlage für eine Platte der Kastrierten Philosophen. Daher sprechen Arfmann und Achinger im schicken, ironischen Kolonialisten- oder Schmetterlingsfänger-Look Auszüge aus dem Roman herunter.

Freunde aus dem Umkreis des Literaten liefern außerdem Berichte von durchzechten Nächten oder deuten dem Kameramann den Weg zu den Räumlichkeiten, in denen die Beatschriftsteller haschten. Ein Mann erklärt einen Aufruhr, ein anderer erzählt am Meeresufer die Geschichte eines Mädchens. Sowohl die Erklärung als auch die Erzählung nehmen dabei unvermittelt den Charakter eines Gleichnisses an. In anderen Sequenzen sind die Kastrierten Philosophen noch beim Soundcheck zu sehen und eine Gruppe Männer bei einer im Detail abgefilmten Tierschlachtung.

Diese Aufzählung mag belegen, daß es Jochen Kraus und Florian Schneider bei Tanger Nonstop an Material nicht gemangelt hat. Mit Hingabe und Zuversicht lassen sich die beiden Regisseure auf das Unternehmen ein, mit dem Ort und den überlebenden Literatenfreun-den auch etwas von dem Gefühl und dem Zauber der Beat-Epoche zu filmen. Dieses Verlangen nach großartigen Gefühlen mag für die Schriftsteller damals ebenso den Ausschlag für ihre Reise nach Nordafrika gegeben haben wie für die Reise der Musiker und des Filmteams in den 90er Jahren. Insofern haben sich die Haltungen beider im Verlauf der Dreharbeiten angenähert.

Nur ist es wichtig, nicht alles, nur weil es gefilmt wird, weil es da ist oder weil man dem verständlichen Hang erliegt, Selbstreflektion durch die Entdeckung der Göttlichkeit zu ersetzen, für großartig zu halten. Was nicht heißt, daß Tanger Nonstop nicht ein paar göttliche Sequenzen enthält.

Kristof Schreuf Do, 22. bis Mi, 28. Mai, jeweils 22. 30 Uhr, 3001