Die unwürdige Geschichte der Colonia Dignidad

■ Mit dem Militärputsch von 1973 setzte der wirtschaftliche und politische Aufstieg der Sekte unter ihrem Führer Paul Schäfer ein. Jetzt scheint ihr Ende unabwendbar

Berlin (taz) – Ende der vierziger Jahre sammelte der evangelische Sozialarbeiter Paul Schäfer Jugendliche um sich, die er mit der Propagierung eines neuen christlichen Glaubens für sich begeistern konnte. Im rechtsrheinischen Siegburg bei Bonn errichtete die Gruppe in Eigenarbeit eine „Jugendheimstatt“. Schon bald entwickelte sich die ehemals christlich orientierte Gruppe zu einer fanatischen Sekte, deren oberstes Prinzip der blinde Gehorsam zum 1921 geborenen Sektenführer Paul Schäfer war. Neben körperlichen Mißhandlungen für abweichendes Verhalten setzte Schäfer auf psychologische Unterdrückungsmethoden. Durch regelmäßige Beichten lernte der Sektenchef die geheimsten Gedanken eines jeden Sektenmitglieds kennen und war damit in der Lage, das Leben eines jeden einzelnen zu kontrollieren. Verschweigen von „Verfehlungen“ anderer wog genauso schwer wie die „Tat“ selbst.

Als 1961 Vorwürfe bekannt wurden, daß sich Schäfer an mehreren Jungen sexuell vergangen hatte, und die Staatsanwaltschaft Bonn Ermittlungen aufnahm, flüchtete Schäfer noch im selben Jahr nach Chile. Vierhundert Kilometer südlich von Santiago kaufte die Gruppe eine heruntergekommene Farm und gründete auf dem Gelände die Colonia Dignidad, die sich nach außen hin um bedürftige chilenische Kinder kümmern sollte. Mit religiösen Geschichten über die „Ankunft des Herrn“, dem nahen Ausbruch des Dritten Weltkriegs und einer Invasion der „Russen“ war die Sekte psychologisch auf die Übersiedelung vorbereitet worden. Unter dem Grundsatz „Arbeit ist Gottesdienst“ wurden die Mitglieder zu permanenter Fron angehalten.

In Siegburg verblieb bis 1989 eine kleine Restgruppe als „Private Sociale Mission“, die die Colonia Dignidad mit Material und Technik aus Deutschland versorgte. Offiziell nannte die Sekte sich „Vereinigung für Wohltätigkeit und Erziehung“ („Sociedad Benefactora Y Educional“). Der Großteil der rund 300 Mitglieder wurde jedoch als unmündige Arbeitssklaven festgehalten. Berüchtigt wurde die Colonia Dignidad nach dem Militärputsch von 1973, als sie sich dem chilenischen Geheimdienst DINA als Folter- und Ausbildungslager zur Verfügung stellte, auf dem politische Gegner gefoltert und ermordet wurden. Schon im Vorfeld hatte die Colonia Dignidad als Stützpunkt der rechtsradikalen Organisation „Patria y Libertad“ gedient. Die Freundschaft zum Militärregime ging bis in höchste Kreise. Pinochet und andere Putsch-Generäle waren Gäste der Sekte. Die Colonia lieh dem Diktator mehrfach den sekteneigenen Mercedes 600. Geheimdienstchef Manuel Contreras war ein Freund der Sekte.

Mit der Machtübernahme des Militärs stellte sich auch der wirtschaftliche Erfolg ein. Das Areal der Colonia Dignidad beträgt inzwischen über 13.000 Hektar. Die Sekte unterhält einen eigenen Flugplatz und ein eigenes Kraftwerk. Krankenhaus und Schule dienen als wohltätige Aushängeschilder. Die Colonia baute Hunderte von Kilometern Straßen, legt Stahl- und Betonbrücken an, erwarb Gold- und Titanminen, war im Fischereiwesen in Concepción tätig und Betreiber eines Kraftwerks für die 40.000 Einwohner zählende Kleinstadt Parral, nahe der Colonia Dignidad.

Doch die wirtschaftlichen Erfolge verhinderten nicht, daß auch in Chile das Terrorregime Paul Schäfers für Aufregung sorgte. Immer wieder versuchten mißhandelte Sektenmitglieder dem Martyrium zu entkommen. Häufig wurden sie aber mit Hilfe der örtlichen Polizei in die Kolonie, die mit Zäunen und Stacheldraht bewehrt ist, zurückgebracht. Dies auch deshalb, weil die Gruppenmitglieder meist kein Spanisch sprachen, kein Geld besaßen und den Großteil ihres Lebens in der völlig isoliert lebenden Sekte verbracht hatten.

Gegen die Foltervorwürfe, die amnesty international und der Stern 1977 veröffentlichten, erhob die Sekte im Mai 1977 vor dem Bonner Landgericht Unterlassungsklage. Der Prozeß hängt noch immer in der ersten Instanz. Inzwischen hat amnesty zahlreiche Zeugen präsentiert, die aussagten, in der Colonia Dignidad gefoltert worden zu sein. Eine Anhörung im Bundestag förderte 1988 Tatsachen zutage, die belegen, daß das Gut ein Folterlager war. Seit 1988 bemühen sich Verwandte darum, Angehörige aus den Klauen der Sekte zu befreien.

Jahrelang erfreute sich die Colonia Dignidad einflußreicher Freunde. CSU-Besucher aus Bayern gaben sich die Ehre, die deutsche Botschaft in Chile kaufte über Jahre Lebensmittel von der Colonia Dignidad. Erst als Pinochet durch den Christdemokraten Aylwin abgelöst wurde, änderte sich auch das politische Klima für Paul Schäfer. Jetzt meldeten sich immer mehr ehemalige politische Gefangene, die in der Colonia Dignidad gefoltert worden waren, aber bisher aus Angst geschwiegen hatten. Im März 1991 stellte die „Nationale Kommission für Wahrheit und Versöhnung“ des chilenischen Parlaments offiziell fest, daß die Colonia Dignidad als Folterort gedient hatte und dort auch Gefangene „verschwunden“ waren.

Zahlreiche Vorwürfe wegen Steuerhinterziehung, Betrugs und Zollvergehen führten im Januar 1991 zum Entzug der Vereinsrechts. Die Sekte klagte dagegen, die Auflösung wurde aber letztlich vom Obersten Gerichtshof 1994 bestätigt. Das Ende der Colonia Dignidad stand jedoch nur auf dem Papier, da die Vermögenswerte zuvor auf andere Gesellschaften übertragen worden waren.

Aber erst Mitte 1996, als die chilenische Polizei gegen Paul Schäfer einen Haftbefehl wegen sexuellen Mißbrauchs von chilenischen Jungen, die im Internat der Sekte lebten, ausstellte, schien das endgültige Ende der Sekte besiegelt. Selbst die 17 Abgeordneten und Senatoren der katholischen Rechten, die die Colonia Dignidad bisher in Schutz genommen hatten, gingen auf Distanz. Jürgen Karwelat