Träume und Alpträume

■ Die endlosen Enthüllungen um Herbert Wehner

Nicht zu Unrecht bemerkt Milan Kundera irgendwo, trotz der ständigen Beschwörung der Zukunft seien wir eigentlich nur an der Vergangenheit interessiert. Mit den seit Jahren anhaltenden Enthüllungen über Herbert Wehner wird über das Terrain gestritten, das die SPD bislang als ihr ureigenes behauptet: die Ostpolitik der 60er und 70er Jahre. Wenn der Nachweis gelingt, Wehner sei eigentlich Zuträger der Stasi gewesen, wird der politischen, mehr noch der moralischen Legitimation der Entspannungspolitik nachträglich ein Stück Boden entzogen. Dann ist die deutsche Einheit nichts als der schließliche Triumph der „Politik der Stärke“ – und Adenauer hätte auch hier recht behalten. Dabei ist es durchaus zweitrangig, daß die entscheidende Phase der Ostpolitik nicht von Wehner, sondern von Bahr bestimmt wurde. Wehner trat für eine langfristige Kooperation der beiden deutschen Staaten ein, die sich in Krisenzeiten auch gegenüber der sowjetischen Hegemonialmacht behaupten können sollte. Bahr favorisierte die Linie „Moskau zuerst!“, um schließlich mit Hilfe einer (gewandelten) Sowjetunion die DDR in die Knie zwingen zu können.

Die Geschichte hat Bahr gerechtfertigt. Und er wird nicht nachträglich zum Gegenstand der Kritik, obwohl an seiner Politik so manches in Zweifel gezogen werden könnte. Man denke nur an sein Verhältnis zu den osteuropäischen Freiheitsbewegungen. Aber Wehner ist's immer noch, der die öffentliche Phantasie entzündet. Bahrs Gedankengebäude war klar wie die Stadtplanung in der Zeit des Absolutismus. Wehners Gedankengänge aber waren stets verschlungen, unerklärt. Er liebte geheimnisvolle Andeutungen und leidenschaftliche Ausbrüche. Er haßte die lauen Menschenfreunde, betete die autoritäre Persönlichkeit an, trotz einschlägiger Erfahrungen im Stalinismus. Glaubte er, daß SED und SPD nur vorübergehende Gestalten des Zeitgeists wären, an deren Stelle eine neue, von starker Hand geführte, einheitliche deutsche Arbeiterbewegung treten würde? Das würde seine Verachtung des sozialdemokratischen Führungspersonals der Zeit ebenso erklären wie die Zuneigung zu Erich, seinem einstigen Zögling, der doch nur als oberster Subalterner des Regimes funktionierte. Was Markus Wolf enthüllt, ist der Stoff, aus dem die Träume sind – und die Alpträume. Christian Semler