■ Mögliche Orte
: Traum vom Himmel

In der Nacht haben Städte keinen Himmel. Über Häusern, Straßen und vereinzelten Spaziergängern flimmert blaß und halbherzig ein leeres Firmament. Die Stadt braucht keine Sterne, sie leuchtet ganz von allein: mit glitzernden Fenstern in den Hochhäusern, mit Neonwerbung, mit fahlen, langgezogenen Straßenlaternen. Mit schnell kreisenden Autoscheinwerfern und flimmernden Fernsehschirmen, deren Schatten auf die Straße fallen. Die warmen und kalten Großstadtlichter übertünchen sich gegenseitig, vermischen sich und setzen sich schließlich zum urbanen Einheitston zusammen: ein giftiger, orangefarbener Dunst.

Auch Berlin liegt unter diesem fiebrigen Science-fiction- Himmel, der nie wirklich dunkel wird. Wer ihm entfliehen will, kann mit dem Auto oder mit dem Zug die Stadt verlassen, nach einigen Kilometern zurückschauen und die Stadt langsam verglühen sehen. Oder, und das ist einfacher und manchmal aufregender, er flieht tiefer ins Innere der Metropole, auf der Suche nach neuen Kunsthimmeln. Ganz gewiß wird er unter einer harten Beton- und Steinschale in Steglitz fündig: im Planetarium am Insulaner.

Dort, mitten in der Stadt, rauschen Tausende von Sternenhimmeln Nacht für Nacht über die Innenseite einer zwanzig Meter großen Kuppel, tanzen wilde Lichtpunkte ein wohlberechnetes Ballett in samtenem Schwarz. Ein virtuelles und flüchtiges Bild, das der aufgetakelten Großstadtnacht beständig seit mehr als 30 Jahren einen wundersam natürlichen Spiegel entgegenhält: Als der Himmel über Berlin gerade geteilt worden war, wurde das Planetarium am Insulaner eröffnet. Vier Jahre nach dem Bau der Mauer lief die große Traum- und Wunschmaschine aus der Produktion der Firma Zeiss in der Mitte des Zuschauerraums zum erstenmal an – ein futuristischer, hantelförmiger Sternengenerator, den die sachliche Sprache der Branche mit dem entzaubernden Terminus „Planetariumsinstrument“ bedacht hat.

Der überdimensionierte Diaprojektor besteht aus 29.000 Einzelteilen und rast in wenigen Minuten einmal durch 4.000 Jahre Sternzeit. Ein Knöpfchendruck an der Kommandobrücke, und jeder Ort, jedes Datum im Raum-Zeit-Kontinuum kann angesteuert werden. „Wir fahren jetzt zurück in das Jahr 100 vor Christus“, raunt der Vortragende hinter seinem Schaltpult ins Mikrofon, und der Sternenhimmel verschwimmt über den Besuchern für eine kurze Zeit zu einem galaktischen Lichtcluster – nur um dann aus dem Nichts ein neues Himmelszelt entstehen zu lassen. Der Urknall, im Planetarium findet er Abend für Abend mehrere Male statt.

Und benebelt alle Sinne, denn zur projizierten Nacht werden schöne Geschichten erzählt. Regelmäßig zur Weihnachtszeit zum Beispiel, wenn es draußen gar nicht mehr dunkel werden will vor lauter Lichterkränzen und illuminierten Tannenbäumen, die Geschichte vom Stern zu Bethlehem. Den es nämlich wirklich gegeben hat, Carl Zeiss und sein Sternengenerator führen den Beweis. Oder man staunt mit von der Dunkelheit geweiteten Augen über die großen Zahlen, die der Weltenraum bereithält: über die Fantastilliarden von Gestirnen, die Lichtjahre, die zwischen der Erde und dem nächsten Sonnensystem liegen – und über die Präzision, mit der diese kosmologische Arithmetik betrieben wird.

Genauso präzise endet die lange Nacht im Planetarium: Nach einer knappen Stunde wird die Sphärenmusik leiser, das Saallicht vertreibt sanft die Schwärze, und die Sterne verblassen malerisch auf der profan gemauerten Oberfläche der Kuppel. Etwas betreten, wie nach einem allzu guten Kinofilm, tritt man hinaus aus der platonischen Sternenhöhle und läßt sich blenden von der Großstadtnacht, die selbst hier draußen in Steglitz noch heller ist als der Planetariumshimmel. Aber vielleicht gelingt es ja: gesenkten Blickes nach Hause zu gehen und das Orange der Berliner Nacht zu ignorieren. Und den Sternentraum noch ein bißchen bei sich zu behalten. Kolja Mensing