Klopfende Innenwelt, Prêt-à-porter

■ Michael Simon inszenierte Büchners „Woyzeck“ in der Berliner Schaubühne

Auf offener Bühne fielen sie sich später um den Hals, die beiden Woyzecks, das mußte schon sein, und sie hatten es verdient. Auch der Regisseur Michael Simon hatte teil am großen Premierenapplaus, einige Buhrufe, natürlich, aber doch auch Jubel, den er sichtlich genoß. Ein immenser Druck hatte auf dieser zweiten Arbeit Simons an der Schaubühne gelastet. Sein Goya-Projekt „schlaflos“ ist schlecht gelaufen, und selbst wenn Simon bewußt als Antithese zu Andrea Breths Literaturtheater ins Haus geholt wurde – Mißerfolg darf trotzdem nicht sein.

Nun zeigte sich der 39jährige Regisseur eher bescheiden. Hatte er für seine Schauspielerinstallation „schlaflos“ das gesamte Gebäude in Beschlag genommen, genügte ihm jetzt der kleinste Saal. Inszeniert wurde auch kein „Projekt“, sondern – handfest und beliebt – Büchners „Woyzeck“-Fragment. Ein großes Holzbrett als Boden, ein weiteres als Wand, dazu rote Samtvorhänge. Und nur zwei Schauspieler, Rainer Philippi aus dem Ensemble, Roland Renner als Gast. Sowie ein 17köpfiger Chor, Laien, Studenten und Off-Schauspieler. Philippi und Renner sind Woyzeck, das heißt: Woyzeck sind hier zwei. Aber auch die anderen Figuren des Stückes, Andres, der Hauptmann, der Doktor, sogar Marie, existieren nur als Stimmen in Woyzecks Kopf, als Text, den mal der eine, mal der andere spricht, oft auch beide zusammen.

Ein kühner Ansatz: Das Sozialdrama als Pathologie, die geschundene Kreatur schindet sich selbst. Gibt sich selbst zu Versuchszwecken nur Erbsen zu fressen, erkennt selbst, daß er „keine Moral“ hat, ist eifersüchtig auf sich selbst und mordet am Ende vielleicht auch sich selbst. Vorausgesetzt, die beiden Woyzecks sind tatsächlich noch als Aspekte der gleichen Figur zu betrachten und die Schizophrenie geht nicht so weit, daß es besser wäre, von einem Beziehungsdrama zu sprechen. Woyzeck und Woyzeck gehören in jedem Fall zusammen, und mögen sie sich auch gegenseitig auf den verwirrten Geist gehen, mag jede gemeinsame Handlung im Streit enden, jeder Tanz in Kabbelei, so teilen sie doch ihren Wahn, ihre Angst und ihre Liebe.

Eine solche „Woyzeck“-Deutung ist natürlich riskant. Was bleibt vom Mörder, der auch Gemordeter ist, vom Betrogenen, der auch betrügt, vom Unterdrückten, der selbst die Peitsche schwingt? Simon antwortet: Ein Clown, ein tragischer, nein: ein Clownspärchen. Und da kommen sie dann auch an, etwas robuster Rainer Philippi, ganz zart Roland Renner.

Ohnehin wirken die stilisierten Kostüme einfacher Soldaten, die alle tragen, nicht nur wie Anstaltskleider, sondern auch wie Pierrotgewänder, Prêt-à-porter: ausgestellte Jacken und Hosen, dazu hell verschmierte Gesichter, rote Münder und ein Käppi auf dem Kopf. Mit kontrolliert ausladenden Schritten schieben sich die Woyzecks und ihre Schatten, der Chor, an der Wand vorbei, insistierend rhythmisiert durch die eingespielte Bläsermusik der Talking Horns. Mal einer, mal drei oder fünf in Formation, zehn Schritte vor, einer zurück und – schwupps – um die Ecke und wieder von vorn.

Gerne gucken auch nur Köpfe über die Wand, am Ende kommen vereinzelte Arme dazu. Irgendwann brummt und singt der Chor „Ein Jäger aus Kurpfalz“, dann rennen alle an die im Halbrund plazierten Zuschauerreihen und singen mit haßerfüllten Gesichtern weiter. Die alptraumhafte Idee eines in den Amoklauf übergleitenden Männerfrohsinns ist gut, die Chor-Darsteller sind es nicht. Doch wer aus dem Ensemble hätte sich wohl zur Verfügung gestellt? Anfangsschwierigkeiten einer neuen Arbeit im etablierten Haus. Auch Selbstverliebtes kommt vor. Krachende Lichtwechsel zu entsprechendem Geräusch und so weiter. Aber wenn dann Renner und Philippi wieder zu sprechen beginnen, zu wispern, zu brüllen und zu singen, ohne Psychologie und doch in Fülle den Woyzeck, Wozeck, Woyek, Wyck intonierend, dann weiß man, daß dieses Theater nicht fertig, aber auf ganz sicherem Wege ist.

Simon ist Bühnenbildner, „von Haus aus“, wie man so sagt, und optisch ist er konsequent. An der Holzwand entlang exerzieren wie Zecken die Woys, ab und zu werden zwei herangezoomt, dann wird's lebendig – die Inszenierung als Ornament und Mikroskopie bis in die herzklopfende Innenwelt, eine Komposition in Gelbgrün und Rot, dann wieder hagelt es Erbsen aus einer Jahresfamilienpackung. Gesprochen wird übrigens die puristische Variante des Büchner- Textes, nach den Handschriften erstellt, kunstgemeißelter Dialekt: „Dann war's vorby. Geh dei Wege.“ Bildnerisches Theater mit Sprache als Rohling für zwei Stimmen, so vielleicht, dann aber doch wieder ein Hauch von Comedy, natürlich schwebt Beckett vorüber, warum eigentlich nicht. Petra Kohse