Europäische Union der Verhinderer

Beim heutigen „Kennenlern-Gipfel“ der EU mit Tony Blair wird sich erweisen, daß andere Länder ebenso viele Vorbehalte gegen die EU-Integration haben wie Großbritannien  ■ Aus Brüssel Alois Berger

Heute wird Tony Blairs Grinsen analysiert. Wieviel Zähne er zeigt, wenn Mehrheitsentscheidungen im EU-Ministerrat zur Sprache kommen, wenn es um die künftige Rolle von Europol geht oder um die gemeinsame EU-Außenpolitik. Die Staats- und Regierungschefs der EU, die heute im niederländischen Noordwijk zu einem Sondergipfel zusammenkommen, werden genau hinsehen. Denn danach werden die Verhandlungspositionen fürs Finale aufgebaut.

Es bleibt nicht mehr viel Zeit bis zum 17. Juni, wenn in Amsterdam der neue EU-Vertrag („Maastricht II“) beschlossen werden soll. Die EU-Chefs hoffen, daß sie den Abschluß der seit über einem Jahr laufenden Regierungskonferenz nicht umsonst auf einen Termin nach den britischen Wahlen gelegt haben. Von der Labour-Regierung erwarten sie mehr Kompromißbereitschaft.

Am Dienstag fühlten die Außenminister in Den Haag ihrem Londoner Kollegen Robin Cook auf den Zahn. „Die wollen jetzt tatsächlich konstruktiv mitarbeiten“, resümiert ein hoher deutscher Beamter. Manchen geht das schon zu weit: Für die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen etwa zeigt die neue britische Regierung mehr Offenheit als die deutsche – die will bei Forschung, Kultur, Industriepolitik und sozialen Fragen an der Einstimmigkeit festhalten. Es zeigt sich: Fast alle Regierungen haben ihre Vorbehalte gegen die geplante EU-Reform – sie versteckten sich bisher nur hinter der britischen Regierung Major.

Paris etwa sperrt sich gegen einen Machtzuwachs des Europaparlaments, Dänemark gegen eine gemeinsame Visum- und Asylpolitik. Bonn möchte verhindern, daß die EU für Beschäftigungspolitik zuständig wird, und die vier neutralen Staaten Österreich, Schweden, Finnland und Irland haben Schwierigkeiten mit der WEU. Die WEU, das Verteidigungsbündnis der europäischen Nato- Staaten, soll nach den Vorstellungen Frankreichs und Deutschlands zum militärischen Arm der EU werden.

Die Regierungskonferenz, die am 16. und 17. Juni abgeschlossen werden soll, war vor fünf Jahren festgelegt worden, um Versäumnisse des ersten Maastricht-Vertrages nachzuholen. Elf der damals zwölf EU-Regierungen wollten die Währungsunion mit einer politischen Union ergänzen. Weil London sich stur stellte, wurde in den Vertrag geschrieben, daß die Probleme vier Jahre später angepackt werden.

Seitdem hat die Angst der Nachbarländer vor der Übermacht des wiedervereinigten Deutschland deutlich nachgelassen. Damit ist auch die Bereitschaft geschwunden, für ein stärker verflochtenes Europa, das Deutschland einbinden würde, auf eigene Souveränität zu verzichten. Von einem „föderalen Europa“ spricht heute niemand mehr; das alte Modell vom „Europa der Vaterländer“ bestimmt die Reformdiskussion.

Bei der Regierungskonferenz geht es deshalb nur noch um die Vereinfachung der Entscheidungsverfahren, damit die EU auch nach der bevorstehenden Osterweiterung handlungsfähig bleibt. Weitergehende Reformen bei der Innen- und Außenpolitik werden kaum über Ansätze hinausgehen.

In den vergangenen Monaten haben sich die Regierungen bereits in einigen Punkten geeinigt: Tierschutz und Unantastbarkeit der Kirchen werden vertraglich verankert, die Umwelt- und Sozialpolitik der EU sollen gestärkt werden. Das Recht der Tiere war den Briten wichtig, der Schutz der Kirchen den Italienern und Deutschen. Dänen und Holländer machten sich für die Umwelt stark.

Und seit Tony Blair versprochen hat, die EU-Sozialcharta zu unterschreiben, hoffen die anderen, daß sie in den nächsten Jahren endlich etwas in die Charta hineinschreiben können. Bislang besteht sie lediglich aus zwei Richtlinien über Eurobetriebsräte und das Recht auf Elternurlaub. Mehr Sozialpolitik trauten sich die EU- Regierungen nicht zu beschließen, weil sie fürchteten, daß Großbritannien sonst aus seinem Fernbleiben noch größere Wettbewerbsvorteile ziehen könnte.

Bei den entscheidenden Fragen werden sich die Regierungen auch heute in Noordwijk nur abtasten. Entschieden wird am 17. Juni. Im Kern geht es um die künftigen Entscheidungsverfahren in der Innen- und Außenpolitik, um die Einbindung des Europaparlaments und um die Gewichtsverteilung zwischen großen und kleinen Ländern. Nur die kleineren Länder und Italien wollen möglichst alles in ein einheitliches EU-Konzept überführen. Die großen Länder haben alle Angst vor dem eigenen Machtverlust: Frankreich und Deutschland wollen, daß eine Gruppe von Ländern, die sich auf eine gemeinsame Aktion einigt, von den anderen nicht aufgehalten werden kann. Neben einigen kleineren Ländern lehnt auch London diese „Flexibilität“ bisher ab. Das Konzept sei entwickelt worden, um die widerspenstige Tory- Regierung aus dem engeren EU- Kreis auszuschließen, heißt es – aber die Labour-Regierung sei ja gar nicht widerspenstig.