Brahms ganz ohne Kompromisse

■ Nie außer Atem: Thomas Hengelbrock dirigierte durch ein begeisterndes Konzert

Ovationen beendeten ein nicht leicht zu konsumierendes Konzert: Thomas Hengelbrock hat mit der Deutschen Kammerphilharmonie am Donnerstag in der Glocke einmal mehr gezeigt, daß gestückelte und kompromißlerische Programme nicht seine Sache sind. Er schloß in diesem Konzert Aspekte der Instrumentation ungemein schlüssig aneinander: Dem erst 1978 entdeckten und von dem Dirigenten Peter Gülke instrumentierten Sinfoniefragment D 936 A von Franz Schubert folgte die Instrumentierung einiger Schubert-Lieder durch Johannes Brahms und abschließend Brahms' Vierte Sinfonie. Anregender kann man das kaum machen und wenn dann auch noch die Interpretationen zufriedenstellend bis begeisternd sind, können wir einen großen Abend verzeichnen.

Schuberts Fragment, das als Klavierskizze mit Eintragungen der Instrumentation vorliegt, ist ein unerhörtes Stück Musik: Nichts mehr hat es gemein mit der klassischen Sonaten-Dialektik, Gustav Mahler ähnlich klingt die stillstehende Einsamkeit des zweiten Satzes. Mit der Einschränkung, daß nicht alle Einsätze homogen waren, überzeugte Hengelbrock durch den interpretatorischen Ansatz. Inhaltlich begründete Klanglichkeit erinnert an einen Satz Peter Gülkes, mit dem man den Charakter dieser Interpretation bezeichnen könnte: „Ohne die Kategorie ,Abschied' kommt man bei der Beschreibung dieser Musik kaum aus“.

Instrumentationen sind immer auch Interpretationen: So sah Johannes Brahms in Schuberts Werk, den er über die Maßen bewunderte, wohl vor allem die seelische Dramatik, die er in sechs Liedern zu erfassen und differenzieren suchte. Der Bariton Matthias Goerne sang die Lieder sehr schön, aber sehr zurückhaltend, hier wäre eine stärkere Profilierung zu wünschen gewesen. Glanzvoller Abschluß war die Wiedergabe von Brahms' vierter Sinfonie, auf deren erstes Thema die Wagner-Partei damals skandierte: „Ihm fiel – schon wie – der mal – nichts ein“. Kein Plüsch-Brahms, sondern einer von unerhörter Dramatik, von erschreckender Herbheit und großer kammermusikalischer Durchsicht. Zusammen mit Streichern des Freiburger Barockorchesters gelang der Deutschen Kammerphilharmonie eine radikale Interpretation. Vielleicht hat Thomas Hengelbrock das Ganze ein wenig zu hochgetrieben, aber man muß zugeben, daß weder ihm noch dem glänzend spielenden Orchester die Luft ausging.

Ute Schalz-Laurenze