Der rechte Winkel als Arabeske

■ Fleisch ansetzen, ohne dick zu werden, oder die ziellose Akkuratesse eines Bewegungsablaufs: Matthias Wittekindts Brüssel Projekt in den Sophiensälen

Der Motor von Matthias Wittekindts Theater ist die Paradoxie. Jede Behauptung verweist auf ihr Gegenteil, ein Pingpongspiel der Logik und der Konsequenzen. Eine Frau steht im Raum. Dann geht sie zu einem Stuhl, der schräg vor ihr steht. Sie geht zügig, doch sie nimmt nicht den kürzesten Weg, nein, erst geht sie geradeaus, dreht sich um neunzig Grad und geht dann abermals geradeaus. Da haben wir die volle Gradlinigkeit, die jedoch gar nicht direkt zum Ziel führt, sondern reiner Selbstzweck ist – der rechte Winkel als Arabeske.

Überhaupt die Frauen. Elegante und perfekt organisierte Geschäftsfrauen, kein Gramm und kein Wort zuviel, zudem in geheimer Mission unterwegs, es geht um Fleisch von einem polnischen Offizier, da muß ein Mann doch Angst kriegen. Dann aber wieder nicht, denn gerade die proportionierte Zielstrebigkeit entlarvt diese Frauen als unverhohlen männliche Projektion. Ein Heimspiel.

Die Arbeit an Wittekindts Brüssel Projekt ist nicht ohne Reiz. Die ziellose Akkuratesse der Bewegungsabläufe, die der ehemalige Architekt erfindet. Die strukturell logischen, inhaltlich aber komplett unsinnigen Unterhaltungen. Die Herrschaftsverhältnisse der Figuren, die sich in kleinen, körperlichen Drangsalierungen äußern. Der Duktus rätselhafter Verschwörungen. Das alles schnurrt stets wohlgeordnet vor sich hin, so auch in der neuesten Produktion „Fleisch“, die am Donnerstag abend in den Sophiensälen Premiere hatte.

Aber wohl weil Wittekindt fürchtet, daß sein Spielwerk allein keinen Abend füllt, läßt er es dabei mächtig dräuen, und das ist das Problem. In „Fleisch“ treffen sich Regina, Maria I und Maria II an einem konspirativen Ort in Polen. Regina (Magdalena Artelt) wurde von einer deutschen Organisation geschickt, um die Marias (Sabine Hertling und Francesca Partone) darin zu unterweisen, wie sie „20 Gramm Fleisch“ von einem polnischen Offizier erbeuten. Offenbar ist Reginas Organisation in der Berliner Wilhelmstraße beheimatet und mit Menschenexperimenten befaßt, irgendwie geht es auch um ein „Baby“ und den freien Handelszugang durch Polen nach Osteuropa. Genaueres erfährt man nicht.

Was auch noch nicht wirklich schlimm wäre, wenn Wittekindt nicht so pathetisch betonen würde, daß er nichts genauer verrät. Plastikstücke werden aus Kartoffelsäcken hervorgepusselt, in der Form männlicher Beine bandagiert und umgeschnallt, eine nackte Kinderpuppe sitzt auf einem großen Tisch und ähnliches mehr.

An alle möglichen Themen der Zeit und der Geschichte will das andocken, ohne sich festzulegen, ja, will mit dem wieder und wieder beschworenen „Fleisch“ selbst welches ansetzen, ohne dabei dick zu werden – theatralische Bulimie. Und mag selbst das im Sinne der Paradoxie konsequent sein, es ist kaum interessanter als Backen ohne Mehl und bei weitem nicht so lustig. Petra Kohse

Bis 25.5. und 29.5 bis 1.6., 21 Uhr, Sophiensäle, Sophienstraße 18