Bayerkusen, das häßliche Entlein wird schön

Die Galerie der europäischen Fußballmeister 1997 reicht von Turin bis Glasgow, von Manchester bis Istanbul. Jetzt könnte sich auch eine große deutsche Metropole einreihen: Le-ver-ku-sen. Für die Chemiestadt wäre der Titel ein Imagegewinn  ■ Von Bernd Müllender

Kann man einen nicht verknusen, schickt man ihn nach Leverkusen; Dort, an diesem End der Welt ist man ewig kaltgestellt. (Aus einem alten Arbeiter-Klagelied)

Man ist noch gar nicht aus dem Bahnhof raus, da wird das Klischee schon bedient: Ein veritables Bayer-Kreuz grüßt aus der Glasmalerei der Vorhalle. Ein paar Schritte weiter in der City, einem erschütternd häßlichen Betonmodernismus der siebziger Jahre, steht man vor dem ersten Kaufhaus. So was heißt hier nicht Hertie oder Horten, sondern „Bayer-Kaufhaus“.

Le-ver-ku-sen ist gemauertes Vorurteil. Aus der Ferne kennt man die Insignie der Stadt, das 120 Meter hohe Bayer-Kreuz, dazu das stauträchtige Autobahnkreuz. Und man weiß vielleicht etwas von der Sportstadt Le-ver-ku-sen, von Dutzenden Olympiasiegern und einem Basketballspitzenteam. Aber sonst? Alles scheint Bayer in Bayerkusen: Bayer-Kasino, Bayer-Big-Band, Bayer- Schwimmbad, Bayer-Sportflughafen, die Bayer Philharmoniker im Bay Komm – dem firmeneigenen neuen Kommunikationszentrum.

Le-ver-ku-sen: Ein großes Chemiewerk mit lauter Bayer-Einrichtungen drumherum, damit die Einwohner (heute 160.000) das Leben an diesem Weltenend besser verknusen können. Auch der Fußballklub ist Bayer. Und wird in der Branche mit Freuden verspottet: Pillenklub, Werkself, Plastiktreter. Für eine Retortentruppe indes hat Bayer 04 diese Saison erfrischend gespielt, attraktiv und torreich. Zwei Spieltage vor Ende steht Bayer mit den Bayern aus München ganz oben. Die Meisterschaft winkt, erstmals. Nieder mit allen Vorurteilen: L. hat mehr als seinen Bayer; immerhin einmal im Jahr seine Jazztage, ein „Kinopolis“ vor der Vollendung, zwei Autobahnkreuze und fünf Bundesbahnhaltestellen, wobei die vermeintlich sechste mit Namen „Bayerwerk“ kurioserweise schon auf Kölner Gebiet liegt.

Fast 50 Prozent Grünfläche mit großem „Bürgerbusch“. Nur einen Torwartabstoß vom künstlichen City-Pfropf entfernt grünt und zwitschert es zwischen den Fachwerken einer hübsch restaurierten Gründerzeitsiedlung. Aus der Luft sieht die Stadt aus wie vom Eierschneider zerteilt: Rhein, Bundesstraße, Bahnlinie, Autobahn, noch eine Bahnlinie. Le-ver-ku-sen, so rühmen die Stadtoberen zu recht, hat eine sehr gute Erreichbarkeit. Genauso schnell kann man aber auch wieder weg. Oder ist, schwupp, schon dran vorbei. 21 Hotelbetriebe mit 1.235 Gästebetten deuten indes auf leibhaftige Übernachtungen. Man könnte meinen, die Stadt würde der Einfachheit halber gleich vom Bayer- Konzern mit verwaltet. Da sei Dr. Walter Mende (SPD) vor, Sohn des Erich Mende (FDP/CDU) und heute der Oberbürgermeister. Er erklärt sich für „geschmeichelt, daß sich jetzt überregionale Zeitungen für uns interessieren“. Sonst habe man doch „das Image vom häßlichen Entlein“. Arbeitsplatzschaffung und Wirtschaftsförderung sind keine leichte Sache beim allgegenwärtigen Chemie- Image und dem „ansonsten Nicht- Image“: „Wir sind doch hier zwischen den Metropolen eingeklemmt.“ Der Windschatten von Bayer und seiner Monostruktur. Jetzt aber schwappe, so Mende, „ein kleiner schöner Imagegewinn“ über die Stadt. Dank Fußball, wieder dank Bayer.

Le-ver-ku-sen ist ein Ensemble von einem Dutzend Örtchen, 1930 erst zum Gemeinschaftsdorf L. zusammengelegt. Der Kommerzienrat Carl Leverkus, ein Apotheker, hatte 1870 eine kleine Chemiefabrik gebaut. Bayer kaufte sie ihm 1891 weg und expandierte zum Weltkonzern. Als Entschädigung gab es später den Stadtnamen. „Immerhin etwas Besonderes“, sagt der OB, „wer hat schon eine Person als Namensgeber für eine Stadt? Mir fällt nur Washington ein.“ Heute macht der Konzern 48 Milliarden Mark Jahresumsatz. 30.000 der 80.000 Leverkusener arbeiten beim Bayer, wie man hier sagt. Dreiviertel der städtischen Gewerbesteuer zahlt der Chemieriese. Das weckte immer schon Begehrlichkeiten. Wie ein räuberischer Hai hat der großmäulige Nachbar Köln zweimal versucht, den Ort zu schlucken. Das erste Mal scheiterte der kölsche OB Konrad Adenauer 1928 an einer Art Bürgeraufstand. Dann versuchten es 1975 erfolglos die Landes-Sozis mit Ministerpräsident Kühn (ein Kölner) und ihrer Gebietsreform. 1984 hatte die Chemiestadt mit Klaus Wolf den ersten grünen Bürgermeister in NRW. „Sehr massiv“, sagt er, würde Bayer auch „das politische Leben dominieren, mit erheblichem Interessendruck, fast ein Diktat.“ Der Grüne hat „ein gespaltenes Herz“: „Ich fühle mit dem Klub, aber es ist eine bedrückende Vorstellung, wenn sich der Bayer-Vorstand bald hinstellen könnte und sagen: Jetzt sind wir auch noch Fußballmeister.“ Die Stadt ist Bayer, aber wofür steht der Klub? Bremen gilt als Sozi-Fußball, Freiburg beheimatet das Fußball-Intellektuelle, Gladbach steht für legendäres Gestern, Dortmund und Schalke für Kohlenpott. München hat 1860 als Arbeitersymbol, die Bayern stehen für Großkotztum. Und Le-ver-ku-sen? Steht halt für Le-ver-ku-sen. Der Bergbau im Ruhrgebiet, sagt der OB, das sei Legende. Seine Arbeiterstadt L. sei durchaus vergleichbar, „aber eben Chemie, und die ist nie populär zu kriegen“. Politiker haben sich bislang am Verein nicht vergangen – kein Möllemann hier oder Präsident Mayer-Vorfelder oder Aufsichtsrat Stoiber. Bayer 04 ist Wirtschaft pur, politikerfreie Zone und eben einziger Bundesligaklub mit dem Geldgeber im Namen. Aber kein Vorreiter endgültiger Kommerzialisierung.

Das Modell hat seit 20 Jahren niemanden angesteckt, in Uerdingen ist es 1995 sogar gescheitert. Prominente sucht man auf den Tribünen vergeblich. Der OB geht hin zum Bayer, wie es hier heißt, und der Bayer-Chef Dr. Manfred Schneider soll bei Toren bisweilen brüllen. Einzig bekannter Bekennender ist sonst BAP-Gitarrist Klaus „Major“ Heuser, ausgerechnet ein Kölner. Er, in Le-ver-ku- sen aufgewachsen, ist auf Vaters Schoß bei Regionalligaspielen vereinssozialisiert worden. Seitdem, sagt er, erntete er beim Outing als Fan „immer ein ziemliches Gelächter“. Freundliches Applaudieren galt jahrelang als heftigste Gefühlsregung im Haberland-Stadion. Den Namen des Chemiegiganten anfeuernd in den Abendhimmel zu brüllen, hatte immer schon etwas Bizarres. Man hat hier ein funktionales Verhältnis zum Klub. Auch innige Heimatgefühle sucht man hier vergeblich. Die meisten Menschen sind jobhalber zugezogen. Wer hier geboren ist, fühlt sich als Wiesdorfer, Schlehbuscher, Opladener. Klaus Schmidt, der Büroleiter des OB, hält sich ans Kreuz und damit wieder an Bayer: „Wenn man nachts aus dem Urlaub wiederkommt und sieht von weitem das Kreuz, das knallt richtig. Da weist du: Du bist zu Hause. Das ist wie der Dom für die Kölner.“ Im Ausland sagt manch ein Le-ver-ku-se-ner, er komme aus Köln. „Vielleicht“, wenn es mit dem Fußballboom so weitergehe, lacht OB Mende, komme der Tag, wo ein Kölner sagt: „Ich komme aus Leverkusen!“ Vorher aber spielt heute der 1. FC Köln gegen den Lokalkonkurrenten. Ausgerechnet dieses Köln könnte einen Meister Bayer 04 Leverkusen verhindern. Und uns München bescheren.