■ Art goes out (Teil 3): Die Kunst der Raststätte
: Action-painting auf dem Klo

Wenn es stimmt, daß der durchschnittliche Deutsche zuerst sein Auto und 180 Stundenkilometer später sein Bankkonto und die Familie liebt, wie kommt es dann, daß Autobahnraststätten keine liebevoll ausgestatteten Kuschelecken für den gediegenen Bleifuß sind? Zu tun hat man es statt dessen mit Kulissen von ultrarealistischen Filmen über die zehn besten Gründe, Suizid zu begehen: ewig flackernde Neonröhren, Sex-Mark-Münzen mit Kamasutra-Prägung unter dem Wechselgelddeckel und blasse Toilettenfrauen, die von Mallorca träumen.

Rühmliche Ausnahme in diesem Elend ist die Raststätte „Fläming“, von Leipzig aus gesehen kurz vor dem Berliner Ring gelegen. Schon bei der Anfahrt erkennt man, daß dieses luftige, zirkusartige Gebilde aus Holz und Glas alles sein will, nur eben nicht das, was es ist: ein Rasthaus.

Unter dem Dach von „Fläming“ schlängeln sich fröhlich offengelegte Funktionsröhren, locker verdeckt von massiver, blank polierter Kiefer oder frei im Raum schwingenden Pergolas. Die Sitzgruppen sind zu Themenparks zusammengeschoben. Da gibt es urwaldmäßig angelegte Regenwälder mit kleinen Wasserfällen oder auch ein griechisches Amphitheater mit einer Frauenskulptur, die so antik ist, daß man ihr von vorneherein den Arm abgeschlagen hat.

Der innenarchitektonische Höhepunkt dieses Gesamtkunstwerks liegt im Keller und würde Toilette heißen, wäre es nicht eine Galerie. Schon der Duft ist anders. Herkömmliche Raststätten überraschen hier gerne mit einem scharfkantigen Gestank, der direkt ins Gehirn geht und dort Panikanfälle sowie Hamstereinkäufe auslöst. Nicht so bei „Fläming“. Hier herrscht Wohlgeruch auf der Basis von Edeltanne, Rosengarten und einem Schuß Obsession, gerade so, als wäre er vom Duftdesigner komponiert worden.

An den Wänden Pop-art und Tizian

Die Wände der – ja, wie soll man's nennen? Toiletterie? – sind jeder Meter reine Kultur. Vom Boden bis zur Decke untereinander, neben-, über- und hintereinander nichts als Poster und Kunstdrucke aus allen Phasen der Zivilisation. Spätraffaeliten, französische Impressionisten, Pop-art satt; die Engelchen von Tizian, wie sie zu Maria aufblicken, aber nur einen Seifenspender sehen; hingetupfte Frauen vor Meeresgischt an Atlantikküste über Pißbecken; Madonnen, die gestandenen Fernfahrer sanft in die Augen schauen, während die ihre letzten Tropfen abwedeln.

Höhepunkte dieser Ausstellung sind sicherlich die einzelnen Kabinen. Jedes Räumchen trägt einen Frauennamen – etwa Claudia, Marilyn oder Amanda. Die Namen stehen auf der Tür, und dahinter verbergen sich neue, überraschende Environments. In „Marilyn“ etwa hängt einem der Marilyn-Monroe-Siebdruck von Andy Warhol im Rücken, während man selbst auf dem Klo sitzt und dabei genau weiß, daß ihre Augen dahin schauen, wo der Stuhlgang gerade vor sich geht.

Man kann nur spekulieren, was dieses revolutionäre Ensemble noch auslösen wird. Nach Sigmund Freud ist die Notdurft die erste quasikünstlerische Eigenproduktion jedes Menschen, und je nachdem, wie man diese Erfahrung verarbeitet, wird man dann Popstar, Schauspieler oder Raststättenbesitzer.

So gesehen kehrt die Kunst im „Fläming“ an ihren Ursprung zurück, um weit über diesen hinauszuweisen. Nun heißt es nicht mehr „Ornament ist Verbrechen“, sondern „Durchfall ist Actionpainting“. Alles andere wäre Urin von gestern. Volker Heise