Liga Nord im Siegesrausch

■ Sechs Millionen Italiener beteiligen sich angeblich bei einem selbstorganisierten Sezessionsreferendum

Rom (taz) – Natürlich ist bereits der Kampf um die Zahlen entbrannt. Waren es wirklich, wie die Liga Nord behauptet, sechs Millionen Bürger, die am vergangenen Sonntag zwischen dem Brenner und dem Po ihre Stimme für ein Sezessionsreferendum einwarfen, oder doch nur drei Millionen, wie die meisten Zeitungen hochrechnen, oder gar nur ein Million, wie die Rechte behauptet?

Tatsache ist jedenfalls, daß der Aufruf des Liga-Führers Umberto Bossi zur „Urabstimmung“ über die „Schaffung einer eigenen unabhängigen Po-Ebenen-Republik“ in Norditalien wesentlich stärkeren Widerhall hatte als die meisten Anhänger den Zentralstaates wahrhaben wollen. Selbst wenn zahlreiche besonders militante Liga-Anhänger gleich zwei- oder dreimal ihre Stimme einwarfen (es gab weder amtliche Wahlscheine noch wurden überall Ausweise zur Identifizierung verlangt), wären drei Millionen „echte“ Wähler schon ein Riesenerfolg. Bei den letzten Wahlen erhielt die Liga Nord gerade mal eineinhalb Millionen Stimmen (von 18 Millionen Berechtigten). Und da nach Auszählung der Wahlzettel mehr als 99 Prozent für eine Sezession stimmten, ist offenbar der Bürgerkonsenes für die Los-von-Rom- Bewegung deutlich größer als bisher angenommen. Eine bindende Wirkung hat die Abstimmung allerdings nicht.

Dennoch reagieren die Hüter des Zentralstaats aufgeschreckt und konfus: Staatspräsident Oscar Luigi Scalfaro versicherte, Italien sei „einig und unteilbar“. Parlamentspräsident Luciano Violante verurteilte die ganze Abstimmung als „absolut lächerlich“. Regierungschef Romano Prodi findet alles „ziemlich unseriös“. Ein Hinterbänkler der Volkspartei hat sogar Anzeige erstattet, weil er die ganze Stimmzettelverteilung für einen verfassungswidrigen Akt hält. Nur wie man dem wachsenden Unmut der Norditaliener gegen den römischen Staat beikommt, fällt niemandem ein.

Auswirkungen könnte die Abstimmung gleichwohl noch in dieser Woche haben: Ab Mittwoch beginnen im Parlament in Rom die Beratungen über die Vorschläge der seit Januar arbeitenden Kommission zur Verfassungsreform. Und die mußte sich, außer zu neuen, effizienteren Formen der Regierungsausübung, auch über eine Modifizierung der Staatsform überhaupt Gedanken machen – hin in Richtung Föderalismus anstelle des bisher allmächtigen Zentralstaats.

Die Liga Nord hatte sich aus den Beratungen von vornherein herausgehalten. Sie vermutet hinter alledem sowieso nur hinterhältige Manöver zur Beibehaltung des Status quo. Angesichts der wachsenden Militanz des Separatismus' – vor drei Wochen haben Fanatiker die Piazza San Marco in Venedig besetzt – und der „Urabstimmung“ vom Sonntag wird sich die Abgeordnetenversammlung nun wohl doch zu einer intensiveren Behandlung des von ihr eher ungeliebten Themas Föderalismus gezwungen sehen. Werner Raith