Beim zweiten Mal mit Verstand

■ Im ersten Wahlgang sieben die Franzosen aus. Wer am Sonntag die (einfache) Mehrheit bekommt, ist dabei

„Beim ersten Mal wählen die Franzosen mit dem Gefühl, beim zweiten Mal mit dem Verstand“, sagen die Politologen. Bei diesem ersten Mal gab es für das Gefühl mehr Ausdrucksmöglichkeiten als je zuvor: An die 6.400 Kandidaten konkurrierten um die 577 Sitze in der Nationalversammlung, die im Prinzip für fünf Jahre gewählt wird, aber vom Staatspräsidenten schon nach einem Jahr wiederaufgelöst werden kann.

Der Kandidatenfächer reichte von zwei Sekten über sechs Öko- Parteien, zwei trotzkistische Gruppen, zahlreiche kommunistische, sozialistische, liberale und neogaullistische Dissidenten sowie die offiziellen Kandidaten der großen Parteien bis hin zu der Unabhängigen Bauernorganisation, dem sehr rechten Bündnis für Frankreich und der rechtsextremen Front National. La democratie gestattet, daß beim ersten Wahlgang jeder kandidieren und nach Gusto Propaganda betreiben darf.

Im ersten Wahlgang sieben die 39 Millionen wahlberechtigten Franzosen aus. Nur wer 12,5 Prozent aller ins Wählerverzeichnis eingetragenen Stimmen in einem Wahlkreis bekommt, darf in den zweiten Durchgang. In den Kreisen, wo es schon beim ersten Durchgang eine absolute Mehrheit gibt, ist die Wahl entschieden.

Bei dem Durchgang für den Verstand kommen in der Regel mehr Wähler als bei der Gefühlsangelegenheit. In zahlreichen Wahlkreisen werden sie dieses Mal „Dreieckskonstellationen“ vorfinden: zwei Kandidaten der großen Parteien, von denen keiner zugunsten des anderen Demokraten verzichten wollte, gegen einen Rechtsextremen. Am nächsten Sonntag könnten die zahlreichen konservativen Gefolgsleute, die vorgestern ihren Parteien einen Denkzettel verpassen wollten, „nützlich“ wählen und einen Umschwung bringen.

Die Linke ihrerseits hat nach Einschätzung vieler Kader ihre Mobilisierungskraft am vergangenen Sonntag weitgehend erschöpft. Auch ist völlig unberechenbar, wie viele Wähler der kleinen linksradikalen Parteien bereit sein werden, ganz realpolitisch die Sozialisten zu unterstützen. Fest steht: Wer am nächsten Sonntag die (einfache) Mehrheit bekommt, darf ins Parlament. Alle anderen Kandidaten scheiden aus.