Abendmahl mit Opfer

■ Gunter Gerlach liest aus seinem Zukunftsroman „Loch im Kopf“

Die Stadt der Zukunft ist ein Alptraum aus Mauern und unterirdischen Labyrinthen. Das Gemeinwesen zerfällt in einzelne Stadtteile, die durch bewachte Grenzen voneinander getrennt sind. Die Reichen leben in Villen, die Armen besetzen verfallene Häuser. Wer einen Arbeitsplatz und damit seine Daseinsberechtigung hat, kann von Glück sagen. Das Leben ist Straßenkampf.

In Gunter Gerlachs Zukunftsroman Loch im Kopf sind Anklänge an die Düsternis von George Orwells 1984 unvermeidlich. Schließlich hat die negative Utopie eine lange literarische Tradition, und der Hamburger Autor kennt seine phantastischen Vorgänger. In dieser unwirtlichen Stadt lebt Jakob Finn, ein Mann ohne Eigenschaften und Vergangenheit. Kopfgeburt, Wiedergänger des Golem oder Android, wer kann das schon so genau wissen. Erst will sich der Mann nicht erinnern, und als er es schließlich doch tut, zweifelt er, ob seine Erinnerungen echt oder angelesen sind: „War es möglich, daß Gelesenes verwechselbarer Bestandteil eigener Erfahrung wurde?“

Finn steht Maria zur Seite, eine Art Autonome der Zukunft aus dem „Freihafenviertel“, dem einzigen Stadtteil, der nicht von der anonymen Obrigkeit kontrolliert wird. Jakob wird gejagt und gemeinsam mit Maria, seiner einzigen Vertrauten in dieser Welt voller Mißtrauen und Angst, versucht er herauszufinden, wer soviel Interesse an ihm haben könnte, daß er ihn zum Freiwild erklärt hat.

Loch im Kopf ist nicht nur ein Gespinst aus literarischen Versatzstücken, es ist auch ein skurriles Gedankenspiel: Mit sichtlichem Vergnügen beraubt Gerlach gebräuchliche Rituale ihres üblichen Zusammenhangs und stellt sie in einen anderen Kontext. Die Besprechung des Chefs mit seinen Geschäftsführern beginnt mit einer rituellen Händewaschung und endet als bizarre Kreuzung zwischen Abendmahl und Gruppentherapie: „Bei der freien Exploration über zu entwickelnde Produkte schenkte er jedem Wein ein und brach ihm ein Stück vom Brot ab. Jeder noch so unsinnige Vorschlag durfte geäußert, aber nicht diskutiert werden.“

Natürlich darf in einer Welt, in der das Geld regiert, auch etwas Kapitalismuskritik nicht fehlen: „Das System heißt Ausbeutung und Betrug. Das heißt, du kannst nur entscheiden, Opfer oder Täter zu sein. Wenigstens sollte man beides sein.“

Selbstverständlich sind die Mächtigen die Bösen, und am Ende müssen wieder einmal die Frauen die Welt erlösen - denn „die starken Männer sind immer Frauen“. Aber wer hätte sich die Zukunft auch anders vorgestellt? Diemut Roether

Lesung: heute, Literaturhaus, Schwanenwik 38, 20 Uhr

Gunter Gerlach, „Loch im Kopf“, Rotbuch, Hamburg, 1997, 240 Seiten, 18.90 Mark